Fernreisenden wie ihnen, eignet dennoch regional Typisches: Man sollte Wolken unterscheiden können je nach Landesart. Im Norden sehen sie anders aus als im Gebirge; und könnten sie sprechen, unterhielten sie sich wohl im Dialekt, friesisch hier, oberschwäbisch dort.
Monat: August 2016
Ansteckungsgefahr
Wie die Fröhlichkeit eines Menschen andere anregt, es ihm gleichzutun, und in die Gemeinschaft lockt, so zwingt ihn dessen schlechte Laune in die Vereinzelung. Es gibt kein dauerhaft gedeihliches Miteinander unter den Miesepetrigen. Der Preis der Verbitterung ist Einsamkeit.
Olympische Idee
Je älter ein Leben, desto eher gilt als Hauptmotiv das olympische Motto: Dabei sein ist alles.*
* So wurde der Satz nie gesagt. Er ist einer von denen, die schon so alt sind, dass über ihren Gebrauchsspuren nicht mehr zu erkennen ist, woher sie rühren. Im Jahr 1908, nach einem Streit zwischen britischen und amerikanischen Wettläufern, soll Pierre de Coubertin, der Gründervater der modernen Spiele, gemeint haben: „Das Wichtige an den Olympischen Spielen ist nicht zu siegen, sondern daran teilzunehmen; ebenso wie es im Leben unerlässlich ist nicht zu besiegen, sondern sein Bestes zu geben.“ Aber da zitierte er auch nur Bischof Ethelbert Talbot.
Verwaltungsakt
Ein verstecktes Talent der Bürokratie ist ihre gerontologische Bestimmungsgenauigkeit. Nichts gibt zuverlässiger Auskunft über das wahre Alter einer Gesellschaft als das Maß ihrer Verwaltungstätigkeiten.
Dreidimensional
Drei Formen, zur Wirklichkeit Zugang zu finden, die im Idealfall einer spannungsreichen Beziehung mehr sehen lassen: Wenn die Welt der Buchstaben sich mit der Welt der Zahlen und der Welt des Witzes verbinden, bleibt das Gespräch über das, was ist, lebendig. Im Verhältnis von Qualität, Quantität und Quatsch zeigt sich, was wir vom Leben verstehen.
Was kann ich für Sie tun?
Neben der Rolle als dezenter Unterhaltungskünstler und dem aufmerksamen Talent zur Fürsorge obliegt dem geschickten Gastgeber vor allem eine Pflicht: den Geladenen das Gefühl zu geben, dass passieren kann, ja soll, was will – eines werde nie passieren: dass ihnen etwas passiert. Gast zu sein bedeutet, in einen Schutzraum einzutreten.
Herrschaft, Knechtschaft
Jedes Regelwerk beginnt damit, dass es eingesetzt wird, um Handlungen zu ermöglichen, indem es sie entlastet von der Frage: Wie entscheiden? Und es endet damit, dass es den Handlungsfreiraum erstickt unter einem Wust an Vorschriften, indem es nichts mehr übrig lässt, was noch entschieden werden müsste.
Spezialthemen
Jede Frage, auch die umfassende, einem Fachgebiet zuzuordnen und deren Behandlung den Experten zu überlassen, macht die moderne Denkfaulheit aus. Es ist dumm, sich für alles das Wissen von Spezialisten auszuleihen, wenn es doch nur darauf ankommt, die eigene Unmündigkeit in den Zusammenhängen zu überwinden.
Tiefpunkt
Macht, die sich verabsolutiert, wird schamlos. Sie handelt im Glauben, dass nichts sie gefährden könne, und provoziert die Wut derer, die sich ihr ergeben müssen. Auf dem Höhepunkt ihrer Unangreifbarkeit verliert sie das Gespür dafür, im Maße ihrer Reichweite auch verantwortlich zu sein, und bereitet so jenen Aufstand vor, der sie ablösen wird.*
* Allzu viele Konstellationen, die jene verhöhnende Gleichgültigkeit der Machthaber dokumentieren gegenüber einem Publikum, das zu fürchten sie meinen, ignorieren zu können: das IOC, das das russische Staatsdoping trotz erdrückender Beweise verniedlicht, das zudem in seine Kommission eine Athletin aufnimmt, die der chemischen Manipulation ihrer Leistungen verdächtig ist und für die Spiele gesperrt war; ein türkischer Präsident, der die Weltbevölkerung zynisch täuscht und einen Putschversuch maßlos nutzt, seine Kritiker mundtot zu machen; eine europäische Staatengemeinschaft, die mit Partnern paktiert, die sie an der Nase herumführen, und die das der Bevölkerung als diplomatisches Geschick verkauft; ein Vorkämpfer für den Brexit, der monatelang an einer offenkundigen Lüge festhält, weil er kalt kalkuliert, mit ihr zu gewinnen, und sich nach dem Sieg aus der Verantwortung stiehlt; ein amerikanischer Präsidentschaftskandidat, dessen Intelligenz immerhin ausreicht, mit der Dummheit einer Bevölkerung leichtfertig zu spielen, eine Regierung, die öffentlich Rechtsbrüche begeht, indem sie diese für moralisch notwendig erklärt …
Lebenslogik
Eines der größeren Missverständnisse menschlicher Existenz ist zu glauben, dass das ungelebte Leben verschwindet, wenn man es lebt.
Berufswechsel
Ein Philosoph ist ein Theologe, der sich aufgegeben hat. Ein Journalist ist ein Schriftsteller, der er nie hat werden können. Ein Berater ist ein Manager, dem es an Unternehmergeist fehlt.
Des Denkens überdrüssig
Nicht wenige Handlungen haben zur Ursache, dass sich die Gedanken mit sich selbst langweilen.
Talentförderung
Solange einer dankbar ist, bleiben seine großen Begabungen menschlich.
Theoretische Prüfung
Niemand zweifelt so stark an einer Praxis ohne Theorie wie an einer Theorie, der die Praxis fehlt.
Heute, heute, nur nicht morgen
Aus der Reihe „Sätze, die im Spiegel besser aussehen“:
Was du morgen kannst besorgen, das verschiebe nicht auf heute.
Liebesgeschichte
Verliebt: die Liebe als Kitsch
Verlobt: die Liebe als Kunst
Verheiratet: die Liebe als Kuriosität (nicht selten)
Prozess denken
Es gehört zur Moderne, dass sie sich mehr für den Prozess interessiert als für das Ergebnis. Nicht ganz à jour sind hingegen all jene, die nur wissen wollen, was das Resultat sei, ohne davon Kenntnis zu nehmen, wie es zustande gekommen ist: Analysten, Controller, Quoteninformanten, Menschen, denen die Zeit plötzlich knapp wird, wenn jemand ansetzt zu erklären.
Loch im Bauch
In jeder Frage steckt der Anspruch, eine Antwort zu erhalten. Und sei es die Erwiderung, dass man keine erwarten darf. Die Schwäche, auf einen anderen angewiesen zu sein, um die eigene Sache zu vervollständigen, äußert sich in der Frage angriffig, als Versuch zu zwingen. Nur so lässt sich verstehen, warum es gleich als eine Missachtung des Ichs ausgelegt wird, wenn sich einer die Freiheit nimmt, nichts zu entgegnen.
Pointensicher
Menschen, in deren Gegenwart man sich gut unterhalten fühlt, sind Meister im treffsicheren Weglassen. Nicht das, was sie erzählen, vergnügt, sondern das, was sie uns ersparen, auf dass wir uns selber beteiligen. Wer die Kurzweil sucht, muss ein gehöriges Maß an Eigenleistung erbringen. Lachen verlangt keine Intelligenz, aber Heiterkeit braucht sie.
Kreuzwörter
„Das kann ich nicht“, sagte er immer dann, wenn er offensichtlich keine Lust hatte, es zu tun.
„Ich habe keine Lust“, sagte sie meist, wenn sie etwas nicht konnte, wozu sie aufgefordert worden war.
Demokratischer Wandel
Ehedem lautete der Kernsatz eines demokratischen Systems: Jedes Wahlvolk hat den Politiker, den es verdient. Heute heißt die ernüchternde Einsicht: Jeder Politiker hat das Wahlvolk, das er verdient.
Der erste Satz des Tages
„Ich weiß jetzt endlich, wie ich meine Träume zuverlässig verwirklichen kann“, sagt sie, kaum dass die Nacht für sie zuende ist. „Und wie?“ fragt er. „Du musst einfach mal aufwachen.“
Zu guter Letzt
Menschen, die Schwierigkeiten haben einen Punkt zu machen, verfehlen in der Regel auch die Pointe, wenn sie etwas erzählen. Nicht sein Anfang, aber das Ende gibt dem Gedanken Schärfe. Pointen sind erinnernswerte Punkte.
Familienmensch
Niemand liebt die Familie so sehr wie das Kind und der alte Mensch. In den Zwischenjahrzehnten lässt sich die individuell wichtige Frage, wo einer sich verorten will, nicht an eine Gemeinschaft delegieren. Es bedarf da schon elementarer Kräfte, damit zwei sich verpartnern.