Monat: September 2016

Das führt zu nichts

Als „theoretisch“ noch kein Schimpfwort war, ging es lediglich darum, mehr zu sehen als andere. Unberührt vom Zwang eines Funktionsnachweises, oblag dem Denken nichts als die schönste aller Aufgaben: sichtbar zu machen, wozu es führt, wenn wir unserer Freiheit uneingeschränkt folgen können. So wurde möglich, was sich in der realen Optik meist wechselseitig ausschließt: auf scharfsinnige Art weitsichtig zu sein.

Unterhaltungskunst

Die Formel für ein unterhaltsames Spiel, für spannenden Sport ist simpel: Es muss gelingen, das Ideal der Perfektion mit der Freude am Risiko zu verknüpfen. Das mag zwar eine contradictio in adiecto sein: fehlertolerante Vollkommenheit, aber es ist die Bedingung für Begeisterung.

Ich kann es nicht erklären

Wie oft könnten wir uns die unsinnige Bitte um Verständnis sparen, wären wir nur beizeiten bei Verstand gewesen.

Verwürzte Kürze, zu kurze Wurzel

Warum die Weisheiten der Welt stets als knappe Sätze formuliert sind? Weil sie so die glückliche Gelegenheit lassen, sich alles Mögliche in sie hineinzudenken. Und nicht Gefahr laufen zu verraten, dass sie nicht tief gegründet sind.

Alternativlos antidemokratisch

Unter den politischen Systemen ist die Demokratie sicher die das anstrengendste. Nichts in ihr ist alternativlos; alles in ihr rechtfertigungsbedürftig. Sie gefährdet sich nicht zuletzt, weil sie unseren versteckten Hang zur Bequemlichkeit dauernd untergräbt und den Bürger auffordert, sich zu beteiligen.

Zeitverläufe

Nichts verrät unser Verhältnis zur Zeit so leichthin wie die Augenblicke, in denen wir große Entscheidungen treffen: Der eine schaut vornehmlich in die Vergangenheit und wägt langatmig ab, was er alles verlieren könnte; der andere öffnet sich erregt der Zukunft und freut sich auf das, was er gewinnen wird. Hier hält sich der Zauderer auf. Dort handelt der Entschlussfreudige.

Der Nebel hat sich verzogen

Klarer kann kein Gedanke sein als jener, der sich selbst erklärt. Langweiliger auch nicht.

Wer, ich?

Wen, wenn nicht sich, sollte einer zeigen, der nicht gelernt hat, in die Rolle eines anderen professionell zu schlüpfen? Dem Vorwurf, man solle doch kein Selbstdarsteller sein, lässt sich nur mit Achselzucken begegnen, sofern man nicht als Schauspieler arbeitet. Es sind meist dieselben, die so reden, welche im gleichen Atemzug mehr Authentizität einfordern. Allein, auch das Schaf im Schafspelz kann nur es selbst sein, indem es sich mimt.

Kraftlos

Zuversicht unterscheidet sich vom Mut durch die fehlende Tatkraft und von der Hoffnung durch die geringere Willensstärke.

Was alle sagen

„Es ist alles schon gesagt, nur noch nicht von mir“: Dieser um keine Erklärung verlegene Satz über unsinniges Geschwätz bekommt plötzlich eine ungeahnte Tiefe als Kommentar zu Situationen, in denen ein Einzelner oft besprochene Erfahrungen macht, die er an sich selbst aber als singulär erlebt. Wie sehr auch eine Liebesgeschichte, ein einschneidender Abschied, eine Begegnung mit dem Schrecken der Welt nach Mustern ablaufen mag, für das Individuum ist das immer ein persönliches Drama, für dessen Deutung alle bisher vorgelegten Bemerkungen nicht hinreichen.

Wohltemperiert

„Du bist so heiß“, sagt sie, seine Stirn fühlend. „Und du so kalt“, antwortet er, ihre Hand spürend. „Das ergibt eine laue Verbindung“, erwidern beide im schönsten Gleichklang.

Geist des Funktionärs

Nicht dass wir eine Sache perfekt können, sondern wie sie wirkt, macht ihre Qualität.

Warum nur?

Die erste Frage des Kindes: Warum?
Die erste Frage des Erwachsenen: Warum nicht?

Ego-Idiot

Keine größere narzißtische Kränkung für den Egoisten als die Aufkündigung einer Gemeinschaft, die für ihn gar nicht existierte.

Entgrenzung

Das Hauptmerkmal all unserer Träume ist, dass sie ohne Grenzen auskommen. Wenn sie Wünsche abbilden, geben sie einen Hinweis, was uns am meisten ausmacht: dass wir beschränkt sind – ein endliches Wesen mit unendlichen Ansprüchen.

The show must go on

Aus der kleinen Serie „Der bessere Buchtitel“:

Die Welt durch die Brille der Verstellung
(Frei nach Schopenhauer. – Das sind leicht gekünstelte Sprachspielereien, ohne tiefere Bedeutung. Dennoch lässt sich aus dem Anklang an die originale Überschrift „Die Welt als Wille und Vorstellung“ etwas lernen: Die Veränderung des Titels geht ja rhythmisch nicht auf. Aus Vórstellung wird Verstéllung; die Betonung springt von der ersten auf die zweite Silbe. Und mit dieser Akzentverschiebung wechselt die Art der Weltbeziehung. Hier, bei der Vorstellung, rückt eine spezielle Stellung der Welt zu mir in den Vordergrund; dort, bei der Verstellung, stelle ich mich der Welt so dar, dass ich mich ihr überhaupt nicht mehr stellen will. Was aber nicht gelingt. Vielleicht lässt sich der Nachdruck, der auf die Stellung gelegt wird, so lesen: Auch bei der Verstellung stelle ich mich, ob ich will oder nicht.)

Abschiedsschmerz

Nicht wenn eine Liaison gekappt wird, ist sie zuende, sondern erst wenn der Prozess ihrer Bewertung abgeschlossen ist. Das kann länger dauern als die Liebesgeschichte währte, um die es geht. Der abklingende Abschiedsschmerz dient dabei als Gradmesser für die Lebendigkeit einer Beziehung, der man heilsam entronnen ist, sobald sich das Urteil über sie nicht mehr ändert. Die beste Voraussetzung für einen neuen Anfang ist Dankbarkeit gegenüber allen früheren Erfahrungen. Sie schützt davor, noch einmal erleben zu wollen, was sich erschöpft hat.

Am seidenen Faden

Abends in der Kneipe. Noch driften die Gespräche wie meist nach Mitternacht nicht ins Metaphysische ab; aber einen Hang zum Grundsätzlichen haben sie schon entwickelt. „Die Sprache ist das Nadelöhr zum Universum“, sagt der lokale Philosoph. „Und was ist der Faden?“, fragt sein Trinkkumpan. „Na, das Denken.“ „Dann haben die beiden, Nadel und Faden, aber ganz schön zu tun, wenn sie die Zerrissenheit der Welt heilen sollen.“ „Und das wird immer seltener“, erwidert der Meisterdenker, sein Weinglas schwenkend; „die Menschen heute sind zum Einfädeln viel zu ungeduldig, geschweige denn dass sie danach noch etwas zusammenfügen. Unser Talent zu analysieren ist viel größer als unsere Fähigkeit zur Synthese.“ „Das mag den Zustand erklären, in dem die Welt sich befindet.“ „Ja, ja. Aber was sagt das über uns?“

Wahrheitsgewichte

Zuweilen hat man den Eindruck, dass Halbwahrweiten doppelt so stark wirken wie das, was wir als die Effekte des Wahren verzeichnen.

Racheakt

Verschwörungstheorien sind die Trostgeschichten der Vergeltungsgesinnten.

Artiger Artist

Der größte Fehler des Lebenskünstlers: entscheiden zu wollen, statt dem Lauf der Dinge zu vertrauen. Im Grunde ist Lebenskunst die Verniedlichung der Verantwortungslosigkeit.

Kein Luxus, nur exklusiv

Die stillschweigende Forderung einer romantischen Liebe nach fehlerfreier Ausschließlichkeit scheitert meist daran, dass der Partner, im ehrlichen Bemühen darum, sein Talent zu lieben verkümmern lässt. Am Ende bietet er das traurige Bild eines Menschen, dessen Treue emotionaler Trägheit zum Verwechseln ähnlich sieht. Diese Exklusivität im Gefühl ist nicht luxuriös, sondern armselig.

Bauen denken

Die Architektur ist voller Anthropomorphismen: Da bekommen Gebäude einen Charakter, sie berühren; Mauern atmen, Fassaden sprechen, Materialien klingen, manchmal sogar zusammen, Räume haben eine Temperatur, ja ein Temperament.
 So zieht die Seelenkunde ein in das Bauen oder die Kommunikationstheorie oder die Verführungskunst. Man nennt das Atmosphäre oder Anmutung. Doch was ist das? Obwohl die Atmosphäre deutlich zu spüren ist, ist sie dennoch nicht einfach da, wie Gegenstände einen Ort bevölkern oder Menschen einander gegenüberstehen. Es ist eine andere Art von Präsenz, die sich hier verdichtet. Sie drängt sich unwillkürlich und unwiderstehlich auf, entgleitet aber, sobald man sie packen möchte.Vielleicht erschließen sich Atmosphären, wie in der Meteorologie, am besten über Spannungsbögen. Darauf kommt es an: dass das Haus seine Anziehungskraft hält über Polaritäten, seine Lebendigkeit ausspielt, indem es nie nur das eine sein will. Atmosphären sind das Irgendwie im Raum, so wie das Anmutige ein Irgendwas am Raum darstellt.

Im Gespräch bleiben

Ein Gespräch beginnt erst, wenn die Unterredung aufgehört hat: Es ist das, was nachklingt, sobald die Worte nicht mehr gewechselt werden. Zwischen zweien, die sich unterhalten haben, ist es das Dritte – eine Dimension eigenen Rechts, die in ihrer ganzen Kraft erst in dem Augenblick in Erscheinung tritt, da das Sprechen verstummt ist.