Monat: Januar 2016

Ganz schön hässlich

Das Hässliche ebnet die Unterschiede ein; das Schöne streicht sie heraus.
(Notiert an einem Mittwintertag, dessen tristes Grau in Grau die Differenz zwischen Stadt und Land verschleiert.) 

Entscheidungsschwäche

Bei allen Vernetzungsmöglichkeiten, Erneuerungsfähigkeiten, Geschäftschancen: Der gesellschaftliche Erfolg der Digitalisierung wird maßgeblich geleitet von dem maßlosen Versprechen, dass sich durch sie das Leben eindeutig gestalten lässt. Wo eine Wahl nur zwischen Null und Eins zu treffen ist, verschwinden die Zwischenformen. Wenig ist dem Menschen so verhasst wie der Grauton seiner Existenz, wenn er dort zu entscheiden hat, wo er den Entschluss doch exakt gar nicht zu fällen vermag. Mit dem Digitalen glaubt er, all jene Phänomene zum Verschwinden bringen zu können, die ihm immer unheimlich waren, weil sie sich nie nur von einer Seite zeigten: wie das dunkle, janusköpfige Geheimnis einer Liebe, die er zugleich hassen kann, oder eines Vertrauens, das er zur Kontrolle einsetzt, oder einer Freiheit, die er als zwingende Last empfindet.

Kampf um Anerkennung

Manchmal muss man, um ernstgenommen zu werden, gegen die eigenen Überzeugungen handeln.

Auf Sicht

Wenn die Liebe blind macht, dann vor allem für ihr eigenes Ende.

Zwei Seiten, eine Medaille

Ritual: die Langeweile wurde in Form gebracht.

Zeig’s mir

Eitelkeit: die Außenseite der Empfindlichkeit.

Da lacht der Geist

Der Einfall ist eine Idee, die sich selbst überrascht.

Vor neunzig Jahren

Als der Begriff „Großwetterlage“ eingeführt wurde, schrieb die Welt das Jahr 1926. Er war noch keine politische Kategorie, sondern kennzeichnete die weiträumige Verteilung der Druck- und Wärmeverhältnisse in der Atmosphäre, die Isobaren und Isothermen. In Zeiten, da wir die Regenwahrscheinlichkeit für jedes Dorf auf die Minute genau vorhersagen können, hört sich „Großwetterlage“ so altmodisch an, wie es der Autor Robert Musil empfand, wenn er den ersten Absatz seiner berühmten Einleitung in den „Mann ohne Eigenschaften“, der mit einer exakten meteorologischen Beschreibung der Großwetterlage einsetzt, münden lässt in den einfachen Satz: „Es war ein schöner Augusttag …“ Heute ist die Großwetterlage kaum noch beschreibbar jenseits mathematischer Modelle, viel zu komplex ist das Geschehen, viel zu umfangreich sind die Analysenformen, wetterkundlich wie gesellschaftlich. Das Wort ist zu einer Metapher geworden, irgendwo platziert zwischen Makro- und Mikroklima. Aber jenseits ihrer begrifflichen Bestimmtheit, als Bildrede, charakterisiert die Großwetterlage sehr viel genauer, was sich tut, als es die Physik des Wettergeschehens je konnte. Die Rhetorik des Wetters vermag Sätze zu formulieren wie: Es braut sich was zusammen. Und jeder weiß, was damit über das Meteorologische hinaus gemeint ist.

Mein Leben als Tweet

Die Biographie in hundertvierzig Zeichen:
Als ich verstand, dass ich später einmal werde sterben müssen, fühlte ich mich wie neugeboren. Seither suche ich in jedem Ende einen Anfang.

Temperatursturz

Manche Zwiegespräche sind so kühl, dass auch der aufgewärmte Eintopf aus stets denselben Themen am Ende einfriert.

Sharing Economy

Nicht jeder Verzicht auf Eigentum heißt schon, dass wir miteinander teilen. Aber er ist vor allem eine neue Beziehung zur persönlichen Freiheit: als deren Wiedergewinn, weil man eine Last losgeworden ist, oder als deren Verlust, weil man keine Gestaltungsmacht mehr hat. Teilen bedeutet weniger, auf den anderen angewiesen zu sein, sondern mit dem anderen so umzugehen, dass mein Eigenes sein Eigenes genannt zu werden verdient. Könnte nicht die Voraussetzung dafür sein, dass es jemandem gehört, der es aber nicht allein besitzen will?

Bleib bei deinem Leisten

Ein anständiger Wissenschaftler betrachtet jede Lösung als heimlichen Verrat seiner Liebe zu den Problemen.

Recht und Freiheit

Warum Eigentum verpflichtet? Weil erst mit ihm, der Verfügungsgewalt über Sachen, Grund und Boden (im Unterschied zum Besitz, der die Dinge nur nutzt), allererst sichtbar wird, was Freiheit bedeutet: das geschützte Recht, mit dem, was einem gehört, jederzeit nach Gutdünken umgehen zu können, sofern damit keine Gesetze gebrochen werden. Es ist diese Freiheit, deren anderer Name „Verantwortung“ lautet, die zwingt zu fragen, welchen Ansprüchen zu entsprechen ist, und die sich rechtfertigen muss, warum sie so und nicht anders gehandelt hat.

Es geht nicht ohne

Noch ein entscheidendes Paradox der Kommunikation (siehe auch das zweite Gesetz): Wer den Konflikt vermeiden will, muss ihn suchen. Es reflektiert die Voraussetzung jedes Redens: dass wir einander im Normalfall nicht verstehen, dass Harmonie nur in seltenen Situationen mehr ist als das schöne Ergebnis von Verdrängung, dass ein Streit besser klärt als das Schweigen, dass jedes Wort danach verlangt, ausgelegt zu werden durch Worte, die danach verlangen ausgelegt zu werden durch Sätze, die …

Politik als Moral

Gesinnung: der Egoismus wird moralisch.
Verantwortung: der Altruismus wird politisch.

Nicht so wichtig

So viel Abstand hat die falsche Bescheidenheit gar nicht zu jener Form von Übertreibung, der sie sich absolut entgegengesetzt wähnt. Beide, der Angeber wie der Anspruchslose neigen dazu, ihre eigene Sache nicht ernstzunehmen; der eine, indem er sie maßlos überbewertet, der andere, indem er sie nicht angemessen wertschätzt. Der Tiefstapler ist dem Hochstapler verwandter, als beiden lieb sein dürfte.

Morgen, morgen

Bei manchen Menschen ist die Zukunft so vollgestopft mit Erwartungen, Unerledigtem, Entscheidungsschwächen, Plänen und Prognosen, dass sie den Zugang zu ihr nicht mehr finden. Man hat den Eindruck, als sei deren Vergangenheit durch die Hintertür ausgebrochen und käme ihnen nun mitsamt dem gesammelten Ballast entgegen. Nichts bedarf die Zukunft mehr als der Offenheit.

Reiner Zufall

Eine Strategie ist in dem Maße erfolgreich, wie sie fähig ist, den Zufall für die eigene Sache zu nutzen. Man mag an dieser Bestimmung erkennen, dass sie viel voraussetzt.

Das ist der Hammer

„Das Klavier gehört doch im Grunde zu den Percussion-Instrumenten wie das Schlagzeug, die Zimbel, die Kuhglocken?“ Die Konzertpianistin zögert einen Moment, dieser Zuordnung zuzustimmen. „Stimmt schon“, antwortet sie. „Aber man kann mit dem Anschlag …“ Plötzlich stockt sie. „Merkwürdig, was in diesen Tagen des Terrors mit einem Wort geschieht. Ich wollte eigentlich sagen, dass ein reines Schlaginstrument wie etwa die Triangel den vollen Klang mit dem ersten Impuls erzeugt und dann verhallt. Wohingegen ein Klavier so gespielt werden kann, dass der Anschlag den Klangverlauf beeinflusst. Ich vermag mit meinen Fingern, ja mit der Bewegung des Oberkörpers dafür zu sorgen, dass die Wirkungen sich in ihrer klanglichen Kraft erst entwickeln, nachdem ich die Taste angespielt habe.“ Und dann fügt sie noch leise hinzu: „… wie bei einem gewaltsamen Anschlag, der auch in vielerlei Weise nachhallt.“

Immer die anderen

„Ah“ – der Ausruf dehnte sich unmerklich ins Respekt zollende Staunen –, „Sie sind Philosoph. Ein Freund der Weisheit.“
„Freund schon“, reagierte der so Angesprochene dezent, „aber weise sind immer nur die anderen“.

Das Brot des Künstlers

Man kann Städte unterscheiden am Applaus des Publikums in einem ihrer Konzerthäuser. Da muss man noch nichts von der Architektur gesehen haben, braucht die Mentalität ihrer Bewohner nicht zu kennen, nichts zu wissen über die Farbe des Dialekts, der in einem Bezirk gesprochen wird. Es reicht die Art des Beifalls nach einer Vorführung: hier prasselnd wie ein eiskalter Wasserfall, dort zerhackt wie ein schlecht gefällter Stamm, tosend oder tobend, verhalten, beiläufig, mechanisch, als käme er von Aufziehpuppen, trotz lang andauernder Akklamation: ausgeblieben. Im Finanzzentrum strahlt nichts von der Wärme ab, die zwischen den Handflächen beim Klatschen entsteht; in der Metropole huldigen die Hörer den Künstlern, indem sie schon hinausgehen, immer auf dem Sprung zum nächsten Anlass für Anerkennung. Und dann gibt es Orte, an denen der Applaus fast die Musik aufnimmt, die gerade noch erklungen ist: herzlich und rhythmisch, voller Melodie und Liebenswürdigkeit – ein Widerspiel des Klangwunders, das im Raum noch nachhallt.

Wie wird hier wohl geklatscht?

Wie wird hier wohl geklatscht?

Gewiss ist nur das Ungewisse

Unruhig pendelt das Leben zwischen dem Bedürfnis, der Ungewissheit zu entfliehen, indem es fortdauernd Entscheidungen trifft, und dem Wunsch, der daraufhin einsetzenden Gewissheit zu entkommen, weil es Furcht verspürt vor deren Langeweile.

Geld oder Geist

Ist je deutlicher beschrieben, was die Eigenschaft des Geldes ist, als in den „Ökonomisch-Philosophischen Manuskripten“, die Karl Marx von April bis August 1844 in Paris verfasst hat? Dort, wo Vertrauen gegen Vertrauen getauscht wird, muss Geld nicht gegen Geld getauscht werden – und umgekehrt. Nur unterschlägt er, dass sich das Vertrauen gegen Geld nicht eintauschen lässt, weil das Geld das Vertrauen (in es und seinen Wert) voraussetzt. Was alles mit allem vergleichbar macht, beruht auf der Fähigkeit nicht zu allem gleichermaßen ein Verhältnis entwickeln zu müssen. Das Geld, schreibt er, „ist die Verbrüderung der Unmöglichkeiten, es zwingt das sich Widersprechende zum Kuß. Setze den Menschen als Menschen und sein Verhältnis zur Welt als ein menschliches voraus, so kannst du Liebe nur gegen Liebe austauschen, Vertrauen nur gegen Vertrauen etc. Wenn du die Kunst genießen willst, mußt du ein künstlerisch gebildeter Mensch sein; wenn du Einfluß auf andre Menschen ausüben willst, mußt du ein wirklich anregend und fördernd auf andere Menschen wirkender Mensch sein. Jedes deiner Verhältnisse zum Menschen – und zu der Natur – muß eine bestimmte, dem Gegenstand deines Willens entsprechende Äußrung deines wirklichen individuellen Lebens sein. Wenn du liebst, ohne Gegenliebe hervorzurufen, d. h., wenn dein Lieben als Lieben nicht die Gegenliebe produziert, wenn du durch deine Lebensäußrung als liebender Mensch dich nicht zum geliebten Menschen machst, so ist deine Liebe ohnmächtig, ein Unglück.“*

* MEW Ergänzungsband. Erster Teil: Schriften, Manuskripte, Briefe bis 1844, 567

Sich selbst überheben

Es gibt eine Arroganz gegen sich selbst, die dafür sorgt, dass wir es an Nachsicht vermissen lassen, wenn wir an unseren Ansprüchen gegenüber dem Leben scheitern. Die verschlossene Härte, die jeder Überheblichkeit innewohnt, verhindert, dass wir aus dem Misslingen jene Erfahrungen ziehen, die der eigenen Sache erst ihre Form geben, indem sie sie begrenzen.