Monat: November 2016

Selbst ist der Mann, die Frau

Glück zu haben, ist die letzte große Demütigung einer Menschheit voller Selbstoptimierer.

Lach doch mal

Nie wird dem Redner sein Publikum vertrauter als in den Momenten, da er es zum Lachen gebracht hat. Eine gut bestätigte Regel in solchen Fällen: Wer zuletzt lacht, lacht am besten. Wer zuerst lacht, am lautesten.

Oh wie niedlich!

Alle Großfeste im Feierkalender gefährden sich selbst durch die Verniedlichung ihrer Sache. So geschieht es in der Weihnachtszeit, zu Ostern oder Karneval. Weil wir nicht mehr verstehen, was ein reflektiertes Verhältnis zur Naivität sein könnte, weil wir Arglosigkeit mit Unbedarftheit gleichsetzen, muss dort, wo das Staunen die einzig angemessene Haltung wäre, ein sentimentaler Kitsch eintreten und bildet Zuckerbäckerformen in dem Maße, wie sich das Pathos entleert hat.

Parallelaktion

Ein wacher Geist zeichnet sich durch seine Fähigkeit aus, Spannungen aufzubauen und auszuhalten. Er fühlt, wenn er denkt; hört, während er redet; argumentiert, wo er erzählt; sucht die Erfahrung in der Theorie; führt ein Gespräch in der Einsamkeit; reflektiert und postuliert; sucht sich und meint den anderen; ist vorbereitet für Überraschungen; wählt stets noch den zweiten Blick. Wachheit ist der Zustand eines Lebens, das weiß, dass es sich in dem Maße erlebt, wie es sich entwirft.

Endlich aufgeklärt

Zu meinen, dass die Aufklärung, das Zeitalter der Vernunft, ein für allemal hinter uns liegt, mag eines der üblichen Missverständnisse sein im historischen Bewusstsein. Aufklärung ist nichts, was sich irgendwann einmal erledigt haben wird, sondern ein steter, kritischer Prozess der Selbstirritation. Kühn indes wird der Gedanke, wenn er aus der Überzeugung, keine Zeit hätte sie so nötig wie die unsere, folgert, der Aufklärung stünde eine große Zukunft bevor. Das muss nicht sein. Es reichte ja schon, wenn eines ihrer wesentlichen Talente wieder zu Gebrauch käme: die Urteilskraft, die dafür sorgt, dass wir unsere Entscheidungen selbstverantwortlich treffen und vor jedermann rechtfertigen können. Nichts verlangt eine Periode der Ignoranz gegenüber Fakten und deren Komplexität mehr als die ungefährdete Achtung der Tatsachen, ja die Fähigkeit, sich Sachverhalten gegenüber sinnvoll und streitbar zu stellen. Wir denken nicht mehr, weil es uns immer weniger gelingt, die Dinge deutlich sein zu lassen.

Sprache denken

Zur Arroganz der Sprache gehört die Überzeugung, es könne keinen Gedanken geben, der ohne sie auskommt, nicht einmal der, der sie selber denkt.

Nicht verzweifeln!

Hoffnung ist Verzweiflung des Optimisten.

Auffällig unauffällig

Der talentierte Opportunist beherrscht die Sprache als einen gymnastischen Ausdruck: Seine Worte sind so geschmeidig, seine Gesten so biegsam, seine Entscheidungen so knetbar, dass sie jederzeit die gegenteilige Form annehmen können, ohne dass es einer größeren Verrenkung bedarf. Tägliches Training in der kosmetischen Anbiederung sorgt dafür, dass seine Rede kein Gramm Substanz ansetzt. Wo andere vernehmlich knirschen, wenn ein Richtungswechsel verlangt wird, bewegt er sich lautlos und höchst gefällig durch die langen Flure der Institutionen, fast instinktsicher zum nächsten Schlupfloch, das nach oben führt.

Flaneur auf Rädern

Die moderne Stadt erzieht ihre Bürger über das Tempo. Für den Spaziergänger zu schnell, für den Autofahrer zu zäh, für den Bahnnutzer zu flüchtig, empfiehlt sie das Fahrrad als das ideale Gefährt, sich in ihr aufzuhalten. So schafft sie einen neuen Typus des metropolitanen Beobachters: den Flaneur auf zwei Rädern. Als hätte Walter Benjamin ihn und sein Bedürfnis schon gekannt, sich rasch und geschmeidig, eilend, aber nie gehetzt zu bewegen, schreibt er: „Er bildet Formen des Reagierens aus, wie sie dem Tempo der Großstadt anstehen. Er erhascht die Dinge im Flug; er kann sich damit in die Nähe des Künstlers träumen.“*

* Gesammelte Schriften 1.2, 543

Sprecht, Wörter!

Not macht erfinderisch.
Erfindungen nötigen die Macht.
Macht erfindet die Not.

Politische Theologie

Versöhnung: der Glaube, dass ein Widerstreit unterschiedlicher Ansichten befriedet werden kann.
Erlösung: die Hoffnung, dass das Leben von gegensätzlichen Überzeugungen befreit werden kann.

Was gibt’s Neues?

Die Sehnsucht von Kultur verdichtet sich im Wunsch, Neues zu schaffen. Ihre Aufgabe ist, dafür zu sorgen, dass die Langeweile ihre selbstzerstörerische Kraft gar nicht erst entfalten kann.

Komm, spiel mit mir

Wenn man das Spiel ernstnimmt, gewinnen beide, das Spiel und der Ernst. Wer mit dem Ernst spielt, verliert das eine wie das andere.

Verletzungsanfällig

Jeder Beruf hat seine spezifische Kränkung.

Frei von der Leber

Sie alle suchen das Gespräch, das noch nie geführt worden ist, eine ungeschützte und ungehinderte Kommunikation, frei von Ängsten, eingefahrenen Mustern, Hierarchien, Tücken und Machtgesten. Dabei ist es so einfach: Man müsste nur einmal aus der Rolle fallen.

Urteil über das Vorurteil

So wie das Urteil eine Gedankenkette abschließt, setzt sich das Vorurteil an deren Beginn. Nur dass es keinen wirklichen ersten Schritt ins Offene darstellt, sondern mit der Behauptung einsetzt, man wisse schon, wie eine Sache ausgehen wird. Das Urteil ist das Ende eines Denkprozesses und der Anfang einer Handlung; das Vorurteil steht am Anfang einer Überlegung und beendet die Freiheit zu agieren.

Ja und Nein

Die kürzesten Wörter, Ja und Nein, haben oft die längsten Wirkungen.

Moralfragen

Erstes Gesetz im humanoiden Zeitalter:
In dem Maße, wie wir lernen, für Roboter eine Moral zu programmieren, fehlt sie dem Menschen. Der Lebendigkeit einer Maschine entspricht umgekehrt proportional das Maschinelle unseres Lebens.

Modellhaft

Welche Kraft die Sprache hat, erkennen wir nicht nur daran, dass sie als „Modell der Wirklichkeit“* taugt, sondern als deren Ersatz: Man kann das lernen bei Menschen, die faszinierend sprechen können von der Liebe, aber unfähig sind, einen Menschen in ihre Nähe zu lassen.

Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, 4.01

Lebensstil

Eine der vornehmsten Aufgaben der Architektur: dem Lebensstil eine Form zu geben. Viele Architekten scheitern daran: Sie bauen eine Form, in die sich ein Lebensstil fügen soll.

Politische Grammatik

Wie sehr sich der Egoismus in der Sprache niedergeschlagen hat, lässt sich an der Konjugation ablesen: erst Ich, dann ein anderer, zuletzt die Sache, über die gehandelt wird. Dabei ist das Du konstitutiv für alle Formen der Selbstaussage und des Selbstverständnisses. Warum nicht mit der zweiten Person singular beginnen und der ersten im Plural enden? Die grammatische Struktur einer Demokratie ist so aufgebaut. Sie beginnt mit dem Ansehen und der Anerkennung eines Gegenübers und begründet auf diese Weise eine stabile Gesellschaft, in der die souveräne Beteiligung aller das erklärte Ziel ist – vom Du zum Wir.

Dumm gelaufen

Viel spricht dafür, dass die Welt weniger durch Bosheit als durch Dummheit zugrunde gerichtet wird. Der größte Unterschied zwischen beiden: dieser fehlt die späte Einsicht.

Lernkultur

Der Erfinder der Zwölftonmusik Arnold Schönberg widmete einst ein Exemplar seiner „Harmonielehre“ dem Schriftsteller und scharfen Kritiker seiner Zeitgenossen Karl Kraus mit dem Satz: „Ich habe von Ihnen vielleicht mehr gelernt, als man lernen darf, wenn man noch selbständig bleiben will.“ Das ist die Klugheit des Schülers, zu verstehen, dass das Lernen ohne die listige Anerkennung des Lehrers kaum gelingen mag; und es gehört zur diskreten Weisheit des Lehrers, das durch die gebotene Distanz zum Schüler wertzuschätzen.

Schöner arbeiten

Es gibt eine Ästhetik des Professionellen, die dem Kunden über jeden Nutzen hinaus vor allem jenes Gefühl vermittelt, das sich beim Betrachten von Schönem stets einstellt: Er bekommt den Eindruck, an der richtigen Stelle zu sein.