Monat: Februar 2017

Ach, könnten wir fliegen

Die Erfahrung des Unendlichen in der eigenen Existenz hat einen Namen. Sie heißt Sehnsucht.

War da was?

Was in persönlichen Beziehungen das Ende anzeigt: dass man nicht mehr miteinander spricht. Nicht mehr über jemanden zu reden, hingegen beschließt die öffentliche Bedeutung eines Verhältnisses. Es wäre die Höchststrafe, die in einer Zeit totaler Kommunikation von jenen Massenmedien verhängt werden könnte, die sich gerade durch totalitäre Kommunikatoren in der Erfüllung ihrer politischen Aufgabe bedroht sehen.

Liebe im Konjunktiv

Aus dem noch ungeschriebenen Roman:

„Schau, da sind gerade noch zwei Plätze frei“, sagte sie, auf der Suche nach einem Tisch im Restaurant. „Als hättest du für mich reserviert.“ Das Augenzwinkern war nicht zu überhören; sie hatte immer ein leichtes Glucksen in der Stimme, wenn sie ins Spiel der Ironie verfiel. Er erwiderte trocken: „So bin ich zu dir, stets aufmerksam und gütig im Konjunktiv.“ Und setzte sich.  „Deswegen liebe ich dich auch so sehr, mein Sprachmeister, der du selbst aus dem Irrealis einen Vorteil zu ziehen vermagst.“ Sie flüsterte: „Um im Modus zu bleiben: Ich könnte dich heute noch auffressen.“ Verwundert über die Möglichkeitsform, die ja zugleich ein Ausdruck des Unwahrscheinlichen zu sein vermag, wandte er ein: „Warum ,könnte‘, warum im Konjunktiv?“ „Ganz einfach“, entgegnete sie triumphierend, „da muss ich mich auf nichts festlegen, mein Schatz. Ich entscheide allein. Mit ihm hat die Grammatik der wirklichen Machtverteilung in der Welt eine sprachliche Entsprechung zu geben versucht. Er spiegelt ein Gefälle wider. Du verstehst? Ist nicht, aber kann sein: Es steht in meiner Willkür. Und weil du so verständig bist, mein Wortkünstler …“ Sie schaute ihm lang in die Augen: „Ich will. Und kann. Und werde.“

Nischendasein

Der hartnäckige Erfolg der Compliance in den Unternehmen hat zur Folge, dass es kaum noch Spielräume in der Arbeit gibt, weil alles mit Regeln, Richtlinien und dem Zwang befüllt wird, sich an sie exakt zu halten. Das freut jene, die im „Spiel“ eine mechanische Metapher sehen, das ungenaue, allzu lockere Zusammenwirken zweier Metallgelenke, die ob ihrer unvollkommenen Passung lästig klappern. Und das zermürbt jene anderen, für die ein „Spielraum“ der Ort ist, an dem all die Ideen und Entwürfe entstehen, mit deren Hilfe sich eine Organisation lebendig entwickelt.

Grenzübergang

Die Faszination des Neuen ist die Entdeckung, dass die eigenen Grenzen überwindbar sind.

Ich bin dagegen

Der Mann antwortet lapidar, als er aufgefordert wird, seinen Familienstand anzugeben: „Im Widerstand“. „Was soll das denn heißen?“ fragt ihn der Protokollant. „Ich bin halt ehrlich“, erwidert der Bewerber: Er sei verheiratet, mache seit Jahren davon allerdings keinen Gebrauch, geschieden, aber nicht offiziell, fühle sich ledig, dabei aber unglücklich, und wünsche sich manchmal, er wäre verwitwet, weil das wohl der freieste aller Stände sei. „Also, im Widerstand.“ „Sehr überzeugend“, meint der Schriftführer, „vielleicht ist das wirklich der am häufigsten vorkommende Zustand in den menschlichen Beziehungen.“ Nur, was soll er denn schreiben? „Na, dass ich aus der Reihe falle, weil ich so offen bin zu sagen, dass ich offensichtlich nicht aus der Reihe falle.“ „Das ist mir zu kompliziert.“ „So wie das Leben.“

Gut verdaut

Der große Lebenshunger verdaut das, was gewesen ist, so rasch, dass er alles, was er beim ersten Gang nicht schaffte, schnöde verschmäht, da es ihm altbacken und verkrustet zu sein dünkt. Sein Desinteresse an der Vergangenheit wächst parallel mit seiner Faszination durch das Unmittelbare. Da bleibt manches unfertig liegen, weil er aus schlichter Neugier sich der nächsten Sache zugewendet hat. Was kümmern ihn die Folgen seines Wirkens, wenn er schon eine neue Möglichkeit vor Augen sieht.

Denk dir den Rest

Vage Versprechungen sind erfolgreicher als die konkreten. In dem Maße, wie auch die meisten unserer Wünsche im Ungefähren bleiben, lassen sie Platz, die Leerstelle mit den eigenen Vorstellungen zu füllen.

Bildkräftig

Eine einzige, gut gewählte Metapher trifft in mehrere Ziele zugleich: Sie fesselt den Verstand, weckt Gefühle, fordert die Anschauung oder regt die Einbildungskraft an, bespielt die Übersetzungslust und nistet sich in die Erinnerung ein. Keines dieser Talente erlebt sich über das Bildwort ohne all die anderen; und dennoch meint es, niemand anderes sei angesprochen als nur es allein.

Weiter, immer weiter

Neue Ziele? Nicht aus Unzufriedenheit mit den verwirklichten Wünschen, aber wegen der süßen Traurigkeit, die jede Erfüllung begleitet. Es ist ein freundlich schmerzendes Gefühl, das sich einstellt, weil mit jedem glücklichen Erfolg auch die Aufgabe weggenommen ist, die zu ihm geführt hat.

Von dir hätte ich das nie erwartet

Andere zu unterhalten, ist ein Talent, das nur so lang wirkt, wie einer sich selbst überraschen kann.

Das geht nach hinten los

Der Rückschritt ist die Bewegung, durch die vorankommt, wer auf dem absteigenden Ast sitzt.

Lasst uns froh und munter sein

Jede neue Moral, die allgemeine Geltung beansprucht, müsste als ihr höchstes Prinzip die Pflicht zur guten Laune erheben. Das würde die Welt in ihren Grundfesten erschüttern.

Scharf kalkuliert

Big Data – wir schreiben der Zukunft zu, was wir bisher nur aus der Vergangenheit kennen: Berechenbarkeit.

Was steckt da drin; wer steht dahinter?

Unter moralischen Gesichtspunkten betrachtet, ist die Digitalisierung nichts als ein grandioses Verantwortungsentlastungsprogramm. Über algorithmische Genauigkeit und die treffsichere Geschwindigkeit einer Rechenmaschine soll der Mensch von Entscheidungen befreit werden, deren weitverzweigte Folgen er ohnehin nicht überblickt.

Aufgewärmt

Das, worin Menschen sich heimlich, aber hartnäckig unterscheiden, erkennen sie nicht in ihrem Alltag, sondern in jenen Augenblicken, da sie ihrem ungelebten Leben wiederbegegnen. Denke dir eine nie zerbrochene Liebe, ein Paar, das einst leidenschaftlich zueinander gefunden, das seiner Beziehung aber keine dauerhafte Chance gegeben hatte: Sie treffen sich, zufällig. Wie reagiert sie? Sie träumt melancholisch von den schönsten Momenten, die sie miteinander teilten, lässt sich kurz und still hinreißen von der Frage: Was wäre, wenn …, und hält sich dann vernünftig, realitätsgewiss und konsequent fest an der Gegenwart einer aktuellen Verbindung. Und wie handelt er? Er handelt nicht; ihn wirft es aus der Bahn. Fortan beherrscht sein ungelebtes Leben das gelebte so, dass es ihm unmöglich wird, es wie gewohnt weiterzuleben.

Gehoppt wie gesprungen

Unter den Killersätzen, die in der Unternehmenssprache immer beliebter werden, steht die Redewendung oben, ein Vorschlag sei ein „Me too“. Wenn das Management keine Lust hat, sich eine Sache näher anzusehen, wenn es ihm zu teuer erscheint, sich auf das Angebot einzulassen, dann leugnet es den Unterschied mit einer Formel, die in dem Maße verletzt, wie sie ins Persönliche reicht. Das „Ich auch“, einer in der Kindesentwicklung schon früh angemeldeter Anspruch, über den sich der Neid artikuliert, Gerechtigkeit eingefordert wird, der erste Stolz sich meldet, will ja nicht sagen, einer sei derselbe wie der andere, sondern reklamiert Gleichbehandlung. Ein „Me too“ kann, sobald Menschen beteiligt sind, schon allein deswegen kein schlichtes Nachahmerprodukt sein, weil die entscheidende Differenz, die Person, gerade geleugnet wird, indem in der Phrase auf sie paradox angespielt wird. Bei Dienstleistungen gilt, dass das Individuum den Unterschied markiert: scheinbar dasselbe ist sie durch den Einzelnen etwas ganz Anderes.

Wutbürger

Der Wut wird metaphorisch zugeschrieben, dass sie blind sei, ungerichtet also, oft desorientiert, ohne Ziel und Klarheit. Über dieses trübe Gefühl finden sich allerdings derzeit so viele Menschen, dass sie politisch wirksam werden, ja Wahlen entscheiden können. Der Affekt beleidigter Empörung stiftet eine negativ orientierte Einheit, der sich populistische Montagsredner und rechtsnationale Parteien kalt kalkulierend annehmen, indem sie deren Unberechenbarkeit kanalisieren in einen dumpfen Widerstand gegen alles, was Gesellschaftsvielfalt und Weltvernetzung auszeichnet. Jede Wut schreit untergründig nach Anerkennung. Es hilft daher nichts, sie zu übersehen, zu diffamieren, klein zu reden. Aber sie kann „sehend“ werden, aufgeklärt über sich und das, was sie auslöst. Dann verwandelt sie sich im besten Fall in Zorn, in eine Auflehnung also, die einen Gegner hat (aber keinen Feind), die für ein größeres Ideal kämpft als ihr eigenes Recht (die Gerechtigkeit), die sich an der Vernunft orientiert (und nicht an dunklen Befindlichkeiten). Wer es mit der Wut nicht zu tun bekommen möchte, schon gar nicht politisch, sollte sich nicht zu schade sein, seinen Zorn zu artikulieren.

Wartesaal

Unter Kindern beliebt ist das Machtspiel, dem anderen so lang in die Augen zu schauen, bis er wegschauen muss. Wer zuerst die Lider niederschlägt, hat verloren. Unter Erwachsenen ist der strukturell ähnliche Wettbewerb üblich, den anderen so lang warten zu lassen, bis er sich beschwert. Wer zuerst auf seinen Gleichmut verzichtet, hat die Niederlage provoziert, die er vermeiden möchte. Am Maß der Zeit, das er anderen rauben kann, erschließt sich, wie mächtig einer ist. An der Zahl der Stunden, die einer sich (für sich oder andere) nehmen kann, zeigt sich, wie souverän er ist.

Wollen will ich schon …

„Dann mach‘, was du willst“. Die Formel – eigentlich der Inbegriff von gewährter Ungebundenheit – entlastet oder erlöst nicht, sondern sie lähmt. Plötzlich ist der Wille mit sich allein; und ein Wille, der nichts bewirkt, verliert sich selbst. Wie oft erfährt einer in solchen Augenblicken, dass er gar nicht weiß, was er will, ja dass er vielleicht gar nichts will. Vor allem aber verrät der Satz, was Gleichgültigkeit heißt: dass die Freiheit des anderen nichts bedeutet. Von der Nicht-Beachtung zur Verachtung dieser Freiheit ist es dann nur noch ein kleiner Schritt.

In der Stadt

Die Trostlosigkeit einer Stadt hat weniger mit ihrer dürftigen Architektur zu tun oder den Menschen, denen man begegnet. Vielmehr entstammt das Gefühl, in ihr verloren zu sein, ihrer Fremdheit. So eng verknüpft das Grau in Grau mit dem Unbekannten ist, darf man nicht zwingend auf das Gegenteil hoffen: Gerade der vertraute Ort kann höchst befremdlich erscheinen.

Liebessegen

Zum Ende des Gottesdiensts verteilt der Pfarrer am Ausgang kleine, bedruckte Karten. Jeder, sagt er zum Abschied, möge sich doch zwei, drei Flyer mitnehmen. Was da denn draufstehe, fragt ein Besucher neugierig. „Es ist nur ein Hinweis auf unsere nächste Heilige Messe. In der wird der Valentinssegen gesprochen.“ „Der Valentinssegen?“ „Ja“, meint der Priester, „für alle Liebespaare, die ihn brauchen. Vielleicht kennen Sie ja die eine oder andere Ehe, der es nicht gut geht.“ „Och“, antwortet der Gast, „wenn das so ist, geben Sie mir am besten den ganzen Stapel mit. Ich wüsste keinen …“ Der Geistliche unterbricht ihn lächelnd: „Ich sehe, Sie haben das Wesen unserer Botschaft verstanden.“

Unzurechnungsfähig

Fundstück – für wen auch immer es zutreffen mag. Der Verlust der Freiheit ist die Folge falsch verstandener Freiheit; aus der Furcht, die eigenen Möglichkeiten zu beschränken, wird die Besessenheit von dem, was beliebig bleibt:
„Es ist eine komische Sache. Ein merkwürdiger Unterschied: Der zurechnungsfähige Mensch kann immer auch anders, der unzurechnungsfähige nie!“*

* Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Bd. 1, 265

Alles eine Frage des Stils

Woran man erkennt, dass es an Persönlichkeit mangelt? Es fehlt der Stil.