Monat: November 2017

Nullwörter

Nullwörter sind Ausdrücke, denen der Inhalt fehlt und die über nichts als ihre Form vermitteln wollen, was sie nichtsagend zu sagen haben. Geht das? Eine kleine Liste solcher Sprachhülsen:
Gelegentlich – die Verweigerung einer Antwort auf die oft entscheidende Frage „Wann?“. Es ist keine Zeitbestimmung, aber die Erklärung, dass man selber über den Zeitpunkt bestimmt.
Prima – das Urteil, das sich hinter seiner eigenen Harmlosigkeit versteckt; die Bewertung als erzieherisches Schulterklopfen, ohne gleich pädagogisch wirken zu wollen.
Na ja – keine Bestätigung, keine Verneinung, kein Aufschub einer Entscheidung, nicht einmal nichts. Sondern das leichte Achselzucken, in Worte gefasst.
Nichts – die Erwiderung auf die Frage „Was hast du?“, die eigentlich meint: Mir fehlt alles. Es aber nicht eingestehen will.

Aufs Neue

Eine der wichtigsten „Nebenwirkungen“ von Vergebung: die Wiederkehr des eigentlich Irreversiblen, der Naivität. Sie, die mit wachsender Erfahrungsfülle meist abnimmt, gewinnt durch die auferweckte Lust, abermals anzufangen. Sie kehrt zurück, weniger als unversehrte Unbedarftheit denn als Kraft, sich von der eigenen Vergangenheit nicht irritieren zu lassen – auf dass das, was dann einsetzt, glückt.

Keine Zukunft

Ein furchtbarer Gedanke: eine Person in sich selbst zu vernichten, indem man die Erinnerung an sie auslöscht. Und doch ist es manchmal besser, sie zu verdrängen, als an ihr und in ihrer Abwesenheit noch zugrundezugehen. Der Härtefall dessen, was keine Zukunft hat, ist, dass ihm auch die Vergangenheit geraubt werden muss. In der Antike war die damnatio memoriae, die Verdammung des Andenkens, eine Strafe für verachtete und verhasste Menschen, von denen die Nachwelt keine Kenntnis mehr erhalten sollte. Statuen wurden geschleift, Namen aus den Annalen gestrichen, Inschriften zerstört. Was später bei Freud als Wiederkehr des Verdrängten identifiziert worden ist, die oft unwillkürliche und verfremdete Erinnerung an das Vergessene, erlebten aber auch die Vorväter. Selten wurde diese Paradoxie so deutlich wie bei Herostratos, der dadurch unsterblich werden wollte, dass er den Tempel der Artemis anzündete. Auch sein Name sollte getilgt sein, dessen Erwähnung gar unter Strafe gestellt – und vielleicht deswegen ist er zum Inbegriff für eine sinnlose öffentliche Tat geworden.

Macht der Anmut

In die Männerdomäne des Dirigenten tritt eine Frau*, klein, aber nicht unscheinbar, voller Energie, aber nicht energisch. Sie betritt das Podest, hebt kurz den Taktstock zur anfänglichen Sammlung der Musiker und beginnt. Beginnt mit einem Tanz aus weitgreifenden Streckungen, melodischen Schwüngen, zarten Andeutungen oder entschlossenen Verweisen ins Orchester, das seiner Taktgeberin, die das Brettergestell vor ihrem Pult zu einer großen Bühne weitet, folgsam in jede ihrer Körperregungen hinein mit den schönsten Klängen entspricht. Das Publikum lauscht, alle Sinne weit geöffnet, mindestens Ohren und Augen, gebannt den Instrumenten, die widerspielen, was es sieht: Anmut, Kraft, Präzision, Beherrschtheit. Musik ist gestrichener, gehämmerter und geblasener Tanz; Tanz die heimliche Quelle der Töne. Und nichts ist wahr von der einflussreichen Beschreibung des Dirigenten durch Elias Canetti**, nach der, „was immer er tut, … Licht auf die Natur der Macht (wirft)“. Es sei denn: die Wahrheit der Führung heißt Verführung.

* Mirga Gražinytė-Tyla ist Chefdirigentin des City of Birmingham Symphony Orchestra.
** Masse und Macht, 453ff.

Der edle Masochist

Es lässt sich nicht leugnen, dass ohne selbstquälerische Schritte kein kluger Geist vorankommt. In jeder Enttäuschung verbirgt sich die Hoffnung, aus ihr zu lernen, ja erfahrener zu werden. Sie ist die Verletzung des Intellekts, die er sich nicht selten selber zufügt, alles, um klarer zu sehen.

Es muss sein

Das Gefühl, gezwungen zu sein, ist das Mindeste, was Pflicht und Sucht einander verwandter erscheinen lässt, als es dieser lieb sein mag und jener angenehm ist.

Versteckspiel

Eine Beobachtung:
Er redete meist nur in Sinnsprüchen. Statt einer Antwort, gab er einen scheinklugen Satz, wie aus einem täglichen Abreißkalender voller Alltagsweisheiten. Er wollte nicht, dass Menschen ihm zuhörten; sie sollten beeindruckt mitschreiben. Hinter wohlklingenden Einsichten, die ihm oft selber fremd blieben, versteckte er die Stumpfheit seiner vom Lebensschmerz betäubten Seele.

Sag’s noch einmal

Das, was man nicht oft genug betonen kann, ist auch das, was in dem Maße abstrakter wird, wie man es wiederholt. Die meisten Worte entleeren sich durch ihren häufigen Gebrauch und werden zur Hülse von schwachem Sinn. Irgendwann bleibt von der täglichen Dosis des schönsten aller Sätze „Ich liebe dich“ nur ein leeres Versprechen wie das knusprig gebackene Marmeladencroissant in der Auslage, das kaum im Mund nur trocken zerbröselt, von der Fruchtfüllung keine Spur. Worte behalten ihre Bedeutung, wenn die Person sich selbst in ihnen dauerhaft engagiert.

Märchenonkel

Das macht die gut erzählte Geschichte aus, dass sie immer nur zur Hälfte wahr ist. Ganz gelogen, steckten wir sie ins Reich der reinen Phantasie; ganz wahr, verlören wir vor Langeweile an ihr das Interesse. Das Totale ist allzu offenkundig; das Offensichtliche ist stets uninteressant.

Vertrauensverlust

Die Einsicht, es fehle in einer Beziehung das Vertrauen, kann nur als Eingeständnis genommen werden, davon selber nicht genügend geschenkt zu haben. Vertrauen ist immer ein riskantes Verhalten, das in dem Maße da ist, wie es damit rechnet, enttäuscht zu werden. Es bedarf eines Vorschusses, damit es entsteht, so dass die entscheidende Frage nicht lautet, ob es an Vertrauen mangelt, sondern wer es zuerst gibt.

Wie geht’s, wie steht’s?

Am Ende jeder Prüfung, ob man zueinander passt, kann nur ein Gefühl den Ausschlag geben, nie die neu erworbene Kenntnis der bestehenden Verhältnisse nach langer Sondierung: Nichts ist gewisser als Indiz, ob eine Verbindung glücken will, als die Vorfreude auf den gemeinsamen Anfang. Da unterscheiden sich private* von politischen Bündnissen nicht.

* Nietzsche hat die Unterhaltung und Unterhaltsamkeit als Kriterium identifiziert für eine glückliche Ehe: „Die Ehe als langes Gespräch. — Man soll sich beim Eingehen einer Ehe die Frage vorlegen: glaubst du, dich mit dieser Frau bis in’s Alter hinein gut zu unterhalten? Alles Andere in der Ehe ist transitorisch, aber die meiste Zeit des Verkehrs gehört dem Gespräche an.“ – Menschliches, Allzumenschliches, § 406

Führungskraftvoll

In Zeiten flacher Hierarchien und der Wiederentdeckung des coworking ist das Subsidiaritätsprinzip der Inbegriff erfolgreichen Managements. Aus dem Führungsanspruch ergibt sich die Unterstützungspflicht des Größeren (sprich: Erfahreneren, Mächtigeren, Älteren, Verantwortlichen, Listigeren …) gegenüber dem Kleineren (denk: Forschen, Kräftigeren, Ideenreicheren, Neuerungslustigen …) – und das nur in jenen Fällen, da dieser sich selber nicht helfen kann.

Nicht alles

Das eigene Tun zu begrenzen, ihm ein Maß zu geben, macht die Grundunterscheidung aus, die kluges Handeln unterscheidet von dem, was uns überfordert. Nicht selten entstehen die größeren Möglichkeiten aus dem, was man lässt.

Liebenswürdiger Kriegstreiber

Nichts macht aggressiver als Freundlichkeit im falschen Moment. Es ist ein gutmütiger Irrtum zu glauben, dass Liebenswürdigkeit Konflikte nur schlichtet. Im selben Maße schürt die Auseinandersetzung, wer nicht versteht, dass die gesammelte Harmlosigkeit den Bissigen beleidigt und ins Unrecht setzt.

Ohne Richtung

Viel verrät, wie unterschiedlich Menschen ihr Leben angehen, jener Augenblick, in dem sie ihre Orientierung verloren haben. Auf der Suche nach einer Richtung bleiben die einen panisch stehen, die anderen drehen sich hektisch, ja geradezu kantig im Kreis und Dritte wiederum geben sich selbst provisorisch einen Weg vor, den sie in unbeirrter und doch fragiler Gewissheit heiter beschreiten.

Schutzräume

Was leicht übersehen wird: In der Diskretion geht es sehr viel weniger um Geheimniskrämerei als um die Garantie für Geborgenheit.

Das Janusgesicht der Welt

Die Welt verliert in dem Maße ihren hohen Unterhaltungswert, wie aus ihr der Hintersinn und die Doppeldeutigkeit ausgetrieben wird.

Die Kunst der Unterlassung

Die intelligente Variante des Problems „Was tun?“ ist die Frage: Was lassen?

Tischgespräche

Man sollte bei all den kunterbunten Gelegenheiten zur sozialen Vernetzung, den Geschäftsessen, Kongressen oder Branchenevents, den Parties nach Dienstschluss und Weihnachtsfeiern, eine Regel verpflichtend einführen: keine Fragen nach dem beruflichen Wirken, keine Auskünfte über Positionen oder akademische Grade, kein Gespräch über das eigene Fach. Solche Begegnungen würden wohl zäh beginnen, aber tief enden; wohingegen jedes networking sich so rasch entwickelt, wie es meist im Flachen verweilt. An der berühmten Mittagstafel von Immanuel Kant durften keine philosophischen Themen besprochen werden. Es sollte vielmehr das Tischgespräch einer dreistufigen Dramaturgie folgen: 1. Erzählen, 2. Räsonieren, 3. Scherzen – vor allem aber sei die „Rechthaberei“ zu meiden, auf dass die Unterhaltung stets eines sein könne, was das „Wohlleben“ der Humanität befördert: „kein Geschäft, sondern nur Spiel“*.

* Immanuel Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, B 248ff.

Menschenfänger

Die schönste Form der Neugier ist nicht daran interessiert, für sich etwas zu wissen, aber sie will von anderen etwas erfahren. Sie sammelt weniger Informationen, als dass sie Beziehungen formt. Eine Frage so zu stellen, dass es zur Lust wird, auf sie zu antworten, kennzeichnet ihr größtes Talent: die Begabung zum fortsetzungsfordernden Gespräch.

Vorsicht, Abgrund!

Man kann auf zweierlei Weise aus dem Leben fallen: nach vorn und nach hinten. Wer seiner eigenen Zeit immer wieder voraus ist, erlebt dieselbe Einsamkeit und das gleiche Unverständnis wie der, der von ihr abgehängt worden ist.

Komplizierte Komplizenschaft

Komplizenschaft ist eine Beziehung, die zwischen Kollegialität und Freundschaft, Liebesverhältnis und Gelegenheitsprofessionalität changiert, im Kern aber die Verschwiegenheit über das enthält, was man miteinander teilt. Dieses Schweigen ist ein anderes als das der Diskretion oder das verpflichtende in Rechtsbeziehungen. Vielleicht ist ja Komplizenschaft in nichts anderem begründet als im Unausgesprochenen, auf das man sich stillschweigend geeinigt hat. Wer sie kündigt, wird als Verräter geächtet.

 

Moralische Allgegenwart

Eine Tugend, die ihr Maß verliert, wird zum moralischen Terror.

Fröhlicher Frust

Zynismus ist die Beobachtungsform der Enttäuschung; Wut die Weise, wie die Frustrierten handeln.