Monat: Dezember 2017

Abschied und Willkommen

Viel lässt sich über Ängste lernen durch die Art, wie Menschen einander verabschieden. Wo der eine sich einfach auf dem Absatz grußlos umdreht, muss der andere einem „Tschüs“ noch ein zweites und drittes hinterherrufen. Hier die lautstarke Szene, dort das besonnene letzte Gespräch, da die nüchterne Bilanz einer von sich selbst erschöpften Beziehung. Der Abschied ist die Urszene des Menschen; und in ihm zeigen sich unsere Urängste. So tritt er in die Welt. Gerade aus der Mutterhöhle herausgepresst, wird die Nabelschnur durchschnitten. Lebensanfang und das Ende der ersten Symbiose fallen zusammen. Es ist die große Kunst, dies jedesmal zu erinnern, wenn ein Adieu ansteht: dass es wieder und wieder auch der Beginn von Neuem ist. Im Kuss, vor der letzten Intimität die innigste Verbindung, wird das symbolisch sichtbar. Er gehört als letzter und erster zu beiden Erfahrungen, der des finalen Aufbruchs wie der vorsichtiger Annäherung. Ein dankbarer Kuss also dem scheidenden Jahr; derselbe dem anbrechenden voller Erwartung.

Ich will

Ein in diesem Jahr nicht gesprochener Dialog
Er: „Wenn du nur einmal sagen würdest, was du willst …“
Sie: „… dann würde ich sagen, dass ich nicht sagen müssen will, was ich will.“
Er: „Aber du musst doch wissen, was dir guttut.“
Sie: „Eben, nicht dauernd darüber nachzudenken, was mir gefällt.“
Er: „Du machst es einem nicht gerade leicht.“
Sie: „Das ist ja auch nicht, was ich will.“

Für und Wider

Unter den lokalen Präpositionen, die Nähe ausdrücken, ist das Lagewort „mit“ sicher das mit der idealen Viskosität, um seelische Partnerformen verdichtet zu beschreiben. Es ist zäh genug, ein stabiles Lebensverhältnis zu benennen, und so flüssig, dass es dessen Bewegungen passgenau mitmacht. Alle Beteuerungen von „Ich halte zu dir“ bis zu „Ich bin bei dir“ schwächeln angesichts des Kraftworts „mit“, das sich nicht abschütteln lässt, das durch keine noch so heftige biographische Volte irritierbar ist. „Ich gehe mit dir“ ist der Inbegriff fester Gemeinschaft.

Zwei, die sich gefunden haben

Im Fachgeschäft
Sie sagt: „Endlich. Der perfekte Kunde. Er weiß, was er will.“
Er denkt: „Die vollkommene Verkäuferin. Sie hat, was ich brauche.“
Kein Suchen, kein Empfehlen. Kein überflüssiges Wort, und die Sache ist eingetütet.
Das bringt sie ins Reden …

Familienferien

Für einen seltenen, entspannten Moment hebt sich unmittelbar nach den familiären Festzeiten die Alltagslaune so, dass die wiedergekehrte Arbeitsroutine empfunden wird wie ein geschenkter Kurzurlaub. Lust auf Welt ist der schönste Nebeneffekt intensiv genossener Intimität.

Wenn die Freiheit faul wird

Nichts gefährdet die Demokratie stärker als das Ressentiment. Es bildet sich, wenn Freiheit ihrer eigenen Gestaltungskräfte überdrüssig geworden ist und sie nur noch einen ernsthaften Gegner findet: sich selbst. Der öffentliche Groll ist ein heimlicher Widerwillen gegen Zustände, denen man in Wahrheit nicht böse sein kann: Das empfundene Unrecht lässt sich nicht herleiten aus zutage getretener Ungerechtigkeit, sondern nährt sich aus selbstverschuldeter Ohnmacht, die für ihr Versagen nicht die Verantwortung übernehmen will. Hybris und Ressentiment sind die beiden Krankheiten, an denen eine Freiheit leidet, die ihre eigenen Grenzen nicht akzeptiert hat und mit ihrer Identität hadert. Sie sind Fehlformen des Erfolgs. „Einen Rachegedanken aber haben, ohne Kraft und Mut ihn auszuführen, heißt ein chronisches Leiden, eine Vergiftung an Leib und Seele mit sich herumtragen“, erklärt Nietzsche das Ressentiment.*

* Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister, Aphorismus Nr. 60

Aug in Auge

Metaphorisch taugt der „Augenblick“ weniger für den kurzen Moment als für das, was im Denken Unmittelbarkeit heißt. Wenn zwei Blicke einander begegnen, der eine in den anderen fällt, so dass nichts zwischen sie zu kommen scheint, weil nicht einmal die Pupille des anderen gesehen wird, sondern – ja was: er selbst? –, weil sich alles in schönster Direktheit ergeht, löst sich Zeit in Raum auf und der Raum verdichtet sich zu jenem selten entdeckten Zeitpunkt, in dem Subjekt und Objekt nicht mehr unterschieden werden können. Genau drei Sekunden soll der Blickkontakt idealerweise dauern, sagt das Experiment, was darunter liegt, wird als flüchtig empfunden, was länger währt, als bedrohlich. Selten sind Einsichten heller als in solchen glückhaften Augenblicken, und selten dunkler, als in der Erinnerung an sie. Die Gewissheit, alles gesehen zu haben, gerinnt zur Enttäuschung, nichts erkannt zu haben, sobald sie sagen soll, was es denn gewesen sei, in das sie unmittelbar Einblick hatte.

Freuet euch!

Weihnachten ist die Geburt der Freude aus dem Geist der Deutung. Kein Anlass zum Glück war die Situation selbst: die Notunterkunft im Stall, die Armseligkeit in der Krippe, die nomadische Umtriebigkeit der Hauptfiguren in der Geschichte. Dass aus der Erzählung wie eine höhere Anordnung der Aufruf an alle ergeht, sich zu freuen, mag verblüffen angesichts der Umstände. Und zu denken geben, dass es um die nicht geht. Nicht das, was ist, sorgt für ein helles Gemüt, aber das, was es bedeutet, vermag mit dem Licht, das es in eine Sache bringt, auch eine lichte Gesinnung zu bringen. Grund zur Freude ist die Freude selbst, auch wenn diese nicht in sich gründet, sondern darin, dass sie mehr sieht als das, was offensichtlich ist.

Hören auf das Wort

Das Hören ist der Respekt vor dem Wort; das Zuhören der Respekt vor der Person, die es spricht.

Ganz schön tief

In Liebesdingen bezeichnet die Intensität des Gefühls, wie tief es reicht; wohingegen Tiefe die Dauer eines Gefühls beschreibt. Das muss nicht zusammenhängen. Zu dumm, wer da Raum und Zeit, emotional geblendet, verwechselt.

Wertegemeinschaft

Der christlichste (gibt es da einen Superlativ?) aller „Werte“ ist gar kein Wert*: Sich an der Gnade genügen zu lassen, wie es bei Paulus heißt (2. Kor. 12,9), bedeutet zunächst, dem Lassen vor dem Tun einen absoluten Vorrang einzuräumen. Es ist der Kernsatz über einen Menschen, dessen Leistungsprinzip die impliziten Erfolgsverheißungen in den entscheidenden Fragenfeldern des Lebens nicht einlösen kann und der trotz dieses Misslingens im Ganzen nicht an sich selbst scheitern muss.

* Anders die jüngste Allensbach-Studie über die Bedeutung christlicher Werte in der deutschen Gesellschaft: F.A.Z. vom 19. Dezember 2017

Ich bin ok, du bist ok

Eine ordentliche Transaktionsanalyse – und die Verantwortung für Konflikte und Kommunikationsstörungen ist irgendwo zwischen Eltern-Ich und Kind-Ich durch die Ritzen der Seelendeutung gefallen. Wo die Ethik versucht, den Menschen in die Rechenschaftspflicht zu nehmen, arbeiten viele Psychotheorien daran, die Schuld samt der zugehörigen Freiheit vom Zentrum weg in persönliche Randzonen zu delegieren.

Wechselwirkung

Das Glück ist, dass es nur ein vorübergehendes Unglück war; das Unglück ist, dass auch das Glück vorübergeht.

Geheimnisverrat

Unter den Geheimnissen des Lebens sind die schönsten jene, die sich nicht verraten lassen, sondern allenfalls offenbart werden. Diskretion heißt die erschrockene Antwort der Neugier auf das, was sich nur sehen lässt, weil es sich zeigen will.

Wenn der Himmel voller Geigen hängt

Der professionelle Trauredner, der Liebespaare mit seinen Worten ins Glück der Zweisamkeit befördert – gefragt, was er den Heiratswilligen überlicherweise so hinterlasse – , sagt: Enttäuschungsfestigkeit. „Das Liebesgedöns am Anfang verschwindet mit der Zeit. Was bleibt, wenn etwas bleibt, ist das Talent, Enttäuschungen aushalten zu können. Eine Ehe zu führen bis ins hohe Alter bedeutet zunächst, mit Abschieden umgehen zu lernen, also nicht darauf zu setzen, dass der Partner die Aufgabe hat, meine Wünsche und Sehnsüchte zu erfüllen.“ Sollte man der Liebe eine Namen geben, hieße sie „Dennoch“ oder „Trotzdem“.

Das Parlament der Seele

Es mag aufschlussreich sein, sich die Seele als eine Art Parlament vorzustellen, als einen vielbevölkerten und vielstimmigen Diskussionsraum. In dem handeln die inneren Repräsentanten unserer Interessen und Leidenschaften, unserer versteckten Beweggründe und widersprüchlichen Abgründe Entscheidungen aus, die in die Realität reichen und von ihr erwidert werden. Freud hatte schon Recht, wenn er die Hauptaufgabe der Psychoanalyse in der Rhetorik ansiedelte, im Aussprechen und Ausgleichen von Untiefen. Eine Therapie ist gelungen, wenn die Polyphonie, die manchmal als Kakophonie sich äußert, für den Augenblick, da der Klient „Ich“ sagt, aufgehoben ist. Nicht dass die Vielstimmigkeit so beendet wäre, aber sie bekommt einen verantwortungsbewussten Ordnungsrahmen in ihrem Redechaos.

Alles hat ein Ende, nur …

Je größer die Vorstellungskraft, desto schwerer ist es, ein Ende zu finden. Das gilt für das Schreibvergnügen, für Projektarbeiten, Liebesverhältnisse, spontane Reden, Lustreisen und die Kochkunst gleichermaßen. Phantasie ist die Unfähigkeit, einen Punkt anders zu lesen denn als Doppelpunkt.

Spielarten des Spaßes

Gäbe es eine Hierarchie in den Spielarten des Unernstes, so stünde ganz oben die feine Ironie und ganz unten in der Rangfolge die unfreiwillige Komik. Diese verlangt nichts an eigenem Beitrag, ist Ausgeliefertsein an die Lächerlichkeit und nicht selten der Anlass zu ungehemmter Schadenfreude: ganz und gar offenkundig, keine Zurückhaltung. Die Ironie hingegen kokettiert selbst mit dem Entdecktsein. Sie fordert Wachheit, hier wie dort, pflegt das elitäre Bewusstsein: nichts ist offensichtlich, alles jederzeit zurückzunehmen.

Zwillingspärchen

Eine der vornehmsten Aufgaben, die Sprichwörter zu erfüllen haben, ist, mit einer Klarstellung jede Erklärung überflüssig zu machen. Das mag der Grund sein, warum für offenkundig strukturähnliche Situationen höchst unterschiedliche, ja gegensätzliche Deutungsangebote zur Verfügung stehen. Gleich und gleich gesellt sich gern, na klar. In etwa so oft, wie Gegensätze sich anziehen. Das Mysterium der Sympathie wird durch den Spruch denen entzogen, die es erforschen wollen, und jenen anderen, die in es allzu viel hineingeheimnissen. Das Plakative eines Sprichworts übergeht allerdings auch all die reizvollen Zwischenformen. Wie oft kommt vor, dass einer sein Gegenüber gerade meidet, weil er bei schönster Seelenverwandschaft über die Kenntnis der eigenen Untiefen vor Augen geführt bekommt, wie es ihm ergehen würde, wenn er der Attraktion durch das Spiegelbild widerstandslos nachgäbe. Gleich und gleich gesellt sich schon deswegen nicht immer gern, weil einer sich selbst nicht über den Weg traut – was so viel heißt wie am anderen zu zweifeln.

Freund der Finanzen

Dass beim Geld die Freundschaft aufhört, ist so wahr, wie eine Freundschaft, die beginnen kann, weil das Geld alle Fragen für unwesentlich erklärt hat, die sie belastet hätten.

Keine Angst!

Der größte Feind der Freiheit ist nicht der Zwang, sondern die Angst.

Übergang zur Tagesordnung

Jene alten Geister, die wie Platon oder Aristoteles den Beginn des Denkens ins Staunen legten, haben ein heimliches Plädoyer gehalten für die Kraft der Naivität, Anfänge zu setzen. Nur der Unbedarfte wundert sich über Ungehöriges so, dass er sich beeindrucken lässt. Von dieser antiken Verblüffung sind wir so weit entfernt wie die moderne Metropole von der Polis. Das Staunen haben wir verloren, als wir aufhörten, nach dem Ganzen zu fragen. In einer Welt, die für alles, für höchst seltene Sexualpraktiken oder den Flatterball beim Freistoß, Experten produziert, ist die Hauptgeste nicht das interessiert aufgerissene Auge, sondern das Achselzucken dessen, der vorgibt, alles schon einmal erlebt zu haben. Nicht Neugier ist ihr Ideal, sondern Routine. In ihrer Tagesordnung, zu der stets unmittelbar übergegangen wird, kommen die Überraschungsmomente nicht vor. – Ein „Weiter so“ dürfe es nicht geben, heißt es in der vorkoalitionären Kommunikation warnend. Im Gegenteil: Nichts wünschen sich alle Beteiligten sehnlicher als die Freiheit vor dem Unvorhergesehenen. Der talkshowtaugliche Spezialist als Situationsdeuter wiegt sein Publikum in einer Erklärungsmélange, die unmöglich macht, zwischen Sicherheit und Langeweile zu unterscheiden.

Freiheit, die ich meine

Die Frage, ob künstliche Intelligenz und Maschinen, die sich ihrer bedienen, den Menschen je werden ablösen können, entscheidet sich dort, wo seine Freiheit sich den größten Spielraum leistet: in der Sprache und ihrer Fähigkeit, bei noch so großer Bestimmtheit (eines Begriffs etwa) eine immer noch größere Unbestimmtheit (in dessen Bedeutung) setzen zu können – und umgekehrt. Solange wir kokettieren können, ironisch sein oder uns über Metaphern verständigen, muss uns nicht Bange sein, dass technische Wesen uns in unserem Miteinander den Rang streitig machen. Vieldeutigkeit, und der Umgang mit ihr, ist, was von Zeit zu Zeit zwar schwer auszuhalten ist, aber immer die Grundvoraussetzung darstellt für ein erträgliches Leben mit anderen.

Der Ton macht die Musik

Zur Ironie gehört nicht nur, dass ein Satz anders gemeint ist, als er gesagt wurde, sondern der versteckte Wille zum Wortgefecht. Sie will zum Widerspruch reizen, ohne sich erklären zu müssen. Ironie öffnet und garantiert ein hohes Niveau der Auseinandersetzung; denn nur jene, die ihre Bedeutungsverschiebungen hören und verstehen, also über ein geteiltes Wissen verfügen, eignen sich als Adressaten. Das unterscheidet Ironie vom Sarkasmus, dessen Hohn nichts will, als das letzte bissige Wort zu haben. Der Sarkast schließt; der Ironiker ist Gastgeber in einem intelligenten Gespräch.