Monat: Februar 2018

Die Folgen der Nebenfolgen

In jedem Netzwerk bedeutet der Versuch, einen Fehler auszumerzen, dass die Sache an anderer Stelle misslingt, oft mit schlimmeren Folgen. Überhaupt ist die Folge ein unzulängliches Sprach- und Denkbild, das mit der festen Verbindung von Grund und Wirkung rechnet. Das höchste Maß an Gesetzmäßigkeit, das Netzwerke zu erkennen erlauben, sind Muster, regelungerechte Typologien, von denen man nicht einmal sagen kann, ob sie letztlich allein dem Bedürfnis nach Ästhetik im Betrachterauge dienen. Strenggenommen versagen Algorithmen hier, auch wenn sie beachtliche Resultate vorweisen, und delegieren stillschweigend die Aufgabe zu sehen, was sich zeigt, an die Phänomenologie. Krankheitsbilder: ein Fall für die Erfahrung in der Medizin; Verspätungen im Fernverkehr: besser lesbar und leichter zu bewältigen für den, der viele Jahre durch sein Nomadentum das Streckennetz detailreich erkundet hat; Börsenturbulenzen: die Gelegenheit für überlegene menschliche Instinkte.

Qualitätssicherung

Man muss dem eigenen Niveau immer um einen Schritt voraus sein. Qualitätssicherung ist Qualitätsentwicklung. In einer Zeit, die sich dem Algorithmus verschreibt, gilt als Indiz von Menschlichkeit der überraschte Ausruf: Damit habe ich nun wirklich nicht gerechnet.

Pendelgesetz

Vor lauter Schreiben vergaß er das Lesen. Und verlernte zu schreiben.
Vor lauter Lesen kam er nicht mehr zum Schreiben. Und verlor, was er gelesen hatte.

Sinneswandel

Wie viele Umschreibungen der Innigkeit erzählen von den Aufgaben der Sinne. „Er wurde von ihr erhört“ oder „Sie kann ihn gut riechen“ oder „Du bist ganz nach meinem Geschmack“ oder, in erschreckendem Maße: „Ich habe dich durchschaut“. Das alles sind unterschiedliche Formen der Wahrnehmung, differenziert nach den Organen, mit denen wir Welt und Menschen aufnehmen. Sie treten symbolisch ein, repräsentieren Beziehungsschichten, stehen stellvertretend für Einstellungen, Haltungen, feste Verbindungen. Pars pro toto entsprechen sie in ihrer zurückgenommenen Ausdrucksart einem größeren Zusammenhang, der bis in die Untiefen des Menschlichen reicht. Und der deutlicher wird, wenn die Sinnlichkeit ihre eigene Verwobenheit mit allen Sinnen sprachlich erklärt, so dass Farben nicht nur gesehen werden, sondern zu schmecken sind, Worte nicht nur gehört werden, sondern berühren, Anstößiges in den Augen schmerzt, die Seele lautlos schreit oder ein Duft sich auf die Haut legt.

Problemzonen

Reflexartig sehen wir in Problemen stets die Aufforderung, sie zu lösen. Dabei lassen sich nicht wenige schlicht als jenen Zonen verstehen, in denen unsere Ablenkungsbereitschaft getestet wird, die uns von den entscheidenden Fragen wegführt. Ein Problem lösen, könnte nicht zuletzt heißen herauszufinden, welche Aufgaben es verdeckt.

Gegenwind

Solange sie Widerspruch erzeugen, sind Gedanken lebendig.

Grenzüberschreitung

Aus dem noch ungeschriebenen Roman:

Er strahlte sie an, als sähe er sie zum ersten Mal wieder nach langer Abwesenheit. „Ich liebe dich. Grenzenlos“, sagte er im Überschwang. Sie trat einen Schritt zurück. Für einen Moment huschte ein Schatten über ihr Gesicht. „Sag das nochmal.“ Er setzte an, dachte, dass ihr die kleine Schmeichelei gefiele: „Ich …“ Da unterbrach sie ihn schon: „Grenzenlos? Weißt du, was das ist: grenzenlose Liebe?“ Ihm schwante, dass er nun, wie so oft, ihren Reflexionsschwall über sich ergehen lassen musste, tausende von Wörtern, wirre, manchmal brillante Gedanken, Sätze aus Zweifeln gebaut, Assoziationsketten, die in ihrer Fülle nur zeigen wollten, dass sie Argumente nicht mehr nötig hatte. „Alles, was grenzenlos sein will, riskiert seine eigene Wirklichkeit, seine Identität. Das gilt für Ideen, Organismen, Organisationen, Staaten und, natürlich, auch für die Liebe. Du kannst nicht mit jedem und jeder Weiterlesen

Fehlerintoleranz

Die Maxime, nur keinen Fehler zu machen, provoziert den größten Fehler überhaupt, indem sie Menschen so lähmt, dass sie nicht handeln. Richtlinien und Regulationen sind inzwischen derart detailliert formuliert, dass mit der Verantwortung für ein Tun auch die Bereitschaft verschwunden ist, sich in der Sache zu engagieren. Was der Maschine der eingestellte Automatismus ist, bedeutet dem Mitarbeiter die vorgeschriebene Zuständigkeit. Jenseits davon gibt es keine Spielräume. Die Vorschriften, die verhindern sollen, dass Falsches geschieht, dienen am Ende nur einem Zweck: es nie gewesen sein zu können, wenn ein Prozess schiefläuft. Aus Angst vor dem Tod begehen die Systeme Selbstmord.

Melodie des Lebens

Nicht zu den Melodien müssen die Lebensgeschichten erzählt werden, an die sie erinnern, sondern von der Musik. Die Sprache der Töne ist vollkommener als die Sprache der Worte, wenn es darum geht, Erlebnisse zu Erfahrungen zu verdichten und Erfahrungen zu einer Biographie zu ordnen. Glücklich, wer für die wichtigsten Augenblicke Tonfolgen als Zeugen anrufen kann.

Selbstverschuldete Unmündigkeit

Der Versuch, im Boardrestaurant des Zugs ein Glas zu erhalten für das gekaufte Pils, wird von der Servicekraft der Bahn abgewehrt mit der Begründung, sie sei nicht zuständig. Einigermaßen irritiert fragt der Kunde, ob sie nicht einfach hinter sich ins Regal greifen könne. „Das darf ich nicht. Ich bin hier nur aushilfsweise eingesetzt.“ „Was ist das denn für eine Form von Unmündigkeit?“ bricht es aus ihm heraus. Die Reaktion der Mitarbeiterin am Tresen lässt nicht lang auf sich warten. „Sie meinen wohl eher Mundigkeit. Oder schmeckt Ihnen das Bier gar nicht und trinken Sie, ohne die Lippen zu benutzen.“ Der Reisende, leicht amüsiert, erwidert: „Wenn Sie nur halb so kundenfreundlich wären, wie Sie schlagfertig sind, wäre ich schon weg.“ „Das wäre schade“, gibt sie ihm zu verstehen. Und reicht ihm das Gefäß. Wenig später läuft sie in ihrer Funktion als Kontrolleurin durch den Mittelgang. „Die Fahrscheine, bitte.“ Sie schaut ihn an. „Und von Ihnen hätte ich gern“; er hat ihr seine BahnCard 100 gezeigt, „auf der Rückseite eine Unterschrift. Nehme an, Sie sind mündig.“

Vertrautes Misstrauen

Vertrauen ist nie das Resultat einer vertrauensbildenden Maßnahme, sondern immer der Prozess, dessen Ergebnis ein Handeln in schönster Selbstverständlichkeit darstellt, ein Dasein in großer Gelassenheit. Es ist nie Ende und Abschluss, sondern stets Anfang und Setzung. Wer nichts riskiert, kann nicht vertrauen.

Ganz und gar

“Soll das alles gewesen sein?“ Die Frage verrät, wie groß die Ernüchterung gewesen ist: Das Ganze soll mehr als „alles“ sein, obwohl es alles ist, was wir ganz und gar erwarten. Man nennt das Sinn.

Sinn und Bedeutung

„Hat man sein warum? des Lebens, so verträgt man sich fast mit jedem wie?“* Nietzsches starker Satz, der zum Besten gehört, was sich über den Lebenssinn bedeutungsvoll sagen lässt, mag auch in seiner Verkehrung gelesen werden: Hat man sein Wie gefunden, muss man das Warum nicht suchen. So gewendet, formuliert das Wort Entscheidendes über den Sinn in den Dingen, über gutes Design und dessen ästhetisch tragfähige Wirkung. Es gibt eine Gestaltung, die die Dinge so formt, dass sich die Frage erübrigt, ob sie passen.

Nietzsche, Götzendämmerung. Sprüche und Pfeile, 12

Schnee von gestern

Es hilft nicht gegen den Hunger, sich daran zu erinnern, schon einmal gegessen zu haben.

Ich will nicht

Worin wir uns für unfähig erklären, ist meist nichts als die faule Ausrede der Unwilligkeit.

Körpergefühl

Der Körper gehorcht dir im Kleinen genau so lang, wie du ihm im Großen folgst.

Weiter so

Ob Macht auch souverän ist, zeigt sich an ihrer Entschlossenheit, sich selbst ein Ende zu setzen.

Helau

Das Faszinierende an der Maske ist stets die Frage, ob sich hinter ihr ein Gesicht verbirgt. Das Fragliche an einem Gesicht ist die versteckte Furcht, es könnte nur eine Maske sein. Wo nichts dahinter ist, zieht auch nichts an.

Genial!

Disziplin ist die unscheinbarste, aber wichtigste Bedingung von Kreativität. Wer das Außergewöhnliche will, muss das Gewöhnliche – und sich im Gewöhnlichen – beherrschen. Der geniale Geist zeigt, was möglich wäre, indem er es verwirklicht, da er wie kein anderer weiß, was notwendig ist. Jenseits des Normalen kennt er es in seinen Begrenzungen. Diese zu achten ist sein ästhetischer Ernst; ihn auf diese beschränken zu wollen die moralische Verachtung der anderen.

Ganz schön kritisch

Die Krise ist jene Lebendigkeit, die ihre eigene Ausdrucksform noch nicht gefunden hat. Das gilt für individuelle Nöte wie für gesellschaftliche Misslichkeiten. Man löst Krisen nicht; man lässt sie hinter sich oder überwindet sie.

Die Nummer eins

Qualität: das Erste, das Beste.
Quantität: das Erstbeste.

Zum Abschalten

Anfang einer zeitgenössischen Allegorie:

Als es der Langeweile in der Kultur zu bunt wurde, ist sie in die Politik ausgewandert …

Verfehlt

Die gefährlichste Entfremdung zwischen Politikern und den Bürgern, die von ihnen parlamentarisch vertreten werden, ist die Asynchronität. Wenn die Regierung in einer anderen Zeit lebt als das Volk, in ihren Antworten rückständig erscheint, wächst der Druck, die Zeit zu beschleunigen. Revolutionen sind stets Phasen, in denen die Geschichte atemlos wird.

Das böse Wort

Die Faszination der Sprache, ihr Reichtum, ihre Plastizität, ihre Wirkungsmacht, verleitet zu der allzu schlichten Annahme, dass die Änderung eines Worts auch das Problem zum Verschwinden bringt, das sich an einem Begriff entzündet hat. „Wording“ nennt sich dieser Glaube an die Kraft der kommunikativen Kosmetik, ein Zauberwort, das bei Managern und Politikern, Rechtsanwälten oder Beratern, zum festen Bestand ihrer Arbeits- und Lebenswelt gehört. Durch Ausdrucksänderungen und verbale Tabus* wird einer einfachen Magie entsprochen, die in dem Maße effektiv ist, wie man sich tiefe Gedanken darüber versagt, was es wohl sein könnte, das da publikumsheischend funktioniert. Nicht nur gilt: the medium is the message**; es verspricht Heilung in einem Konflikt auch, die Hülse zu wechseln, als ob sich der Charakter einer Schönheit besserte, wenn sie sich die Lippen aufspritzen oder die Lider straffen lässt. Über der Attraktivität der Sprache vergisst man, was an ihr anziehend ist: dass sie nämlich nie nur äußerlich ist oder äußerlich bleibt, sondern über ihre Bedeutungsvielfalt einen Menschen zeigt und durch ihre Wortweite eine ganze Welt zu öffnen vermag.  

* Die Verabredungen für eine Große Koalition enthalten das Verbot, dass die Beschränkung von Zuwanderungszahlen nicht mehr „Obergrenze“ genannt werden dürfe.
** Marshall McLuhan, Understanding Media