Allen ist der Kragen geplatzt

In keiner der kleinen, eleganten Abendgesellschaften, die sich zum Essen im Edelgasthof eingefunden haben, sitzt noch ein Mann, der zum Anzug eine Krawatte trägt. Der zweimal aufgeknöpfte weiße Hemdkragen, aus dem die Brusthaare herauskriechen wie aus dem verschneiten Kamin der winterliche Rauch, ist zum Accessoire einer offenen Gesinnung avanciert. Warum sich den Hals freiwillig zuschnüren, wenn vor lauter Duzseligkeit und den Verzicht auf die förmliche Etikette sich der Dünkel unter dem Tisch versteckt hält, im verschämten Wettstreit um die schönsten Schuhe, Kampfklassen „Sneaker“ und „Pferdeleder“. Graue Herren im grauen Stoff, unterschiedslos um den Vorteil im grauen Geschäft ringend, fühlen sich wie im bunten Fünf-Sterne-Startup. Gleicher können einander Gleiche unter Gleichen kaum begegnen. Dabei war die Krawatte einst das Zeichen jener klugen Bürger, die die Individualität in dem Maße zu betonen suchten, wie sie auf die politische Gleichheit gepocht hatten. Honoré de Balzac gab dem Binder einst gar eine spätrevolutionäre Note: „Als die Franzosen aller Klassen einfache Bürger waren und vor dem Gesetz gleich waren, verwischten sich auch in der Kleidung alle Unterschiede … Da schlug die große Stunde der Krawatte. Sie gewann soziale Bedeutung. Denn ihr fiel nun die Aufgabe zu, der eintönigen Bürgertoilette wieder Nuancen zu verleihen; sie wurde gleichsam zum Etikett, das den homme comme il faut vom gemeinen Mann unterschied.“