Kategorie: Die tägliche Notiz

Außer Form

Ein Inhalt, der nur der Form zu genügen hat, verliert sich selbst. Zurück bleibt die Form, die nichts ist als hohl.

Verstanden

In Wahrheit nichts zu verstehen außer dieses eine: zu erleben, wie man immer schon verstanden ist, das gehört zu den tiefsten Wirkungen der Liebe.

Massenvernichtung

Aus einer Samstagabendlektüre

„Dass Kriege so lange dauern können, dass sie noch weitergeführt werden, wenn sie längst verloren sind, hängt mit dem tiefsten Triebe der Masse zusammen, sich in ihrem akuten Zustand zu erhalten, nicht zu zerfallen, Masse zu bleiben. Dieses Gefühl ist manchmal so stark, dass man es vorzieht, sehenden Auges zusammen zugrunde zu gehen, statt die Niederlage anzuerkennen und damit den Zerfall der eigenen Masse zu erleben.“*

* Elias Canetti, Masse und Macht, 47f.

Fehlen des Mitleids

In jedem Ratschlag versteckt sich ein Mangel an Mitleid. Er ist die abgelenkte Form einer Verweigerung, der Ablehnung von Begleitung, und so die Abstraktion einer geschuldeten Hilfe.

Massenhaft

Gedanken vor Palmsonntag: Nichts macht so einsam wie die Liebeserklärung einer Masse. Wo das Volk jubelt, steht es am Wegrand und geht nicht mehr mit. Das vereint beide, die Begeisterten, die „Hosianna“ rufen, und die Feindseligen, die schreien „Kreuzige ihn!“, dass sie nicht mehr mitziehen, sondern sich ein endgültiges Urteil gebildet haben. Sie sind zu Schaulustigen geworden; die einst Verbündeten haben sich gewandelt in enthusiastische oder enttäuschte Kritiker. Vor lauter Sehnsucht nach Erlösung vergisst die ekstatische Menge, dass alles darauf ankommt, das eigene Leben zu ändern.

Auch ein Loblied

Man ehrt den Gott, der sich als Wort offenbart, auch, indem man den Reichtum des Ausdrucks nicht so weit verkümmern lässt, dass sich am Ende nicht mehr genau sagen lässt, was ist, so dass auch nicht mehr gehört werden kann, was zu sagen sei. Das Reden lebendig und kräftig zu erhalten, präzise und wahr, singt immer ein Loblied mit auf die weltschaffende und weltverändernde Macht der Sprache, die im Wort, als das Gott sich identifiziert, zwischen Versprechen und Verzeihen den rettenden Ausweg markiert.

Freundschaft mit Kalau

Freundschaft: die Beziehung mit dem geringsten Peinlichkeitspotential bei höchster Kalauerkompetenz.

Böse Macht

Macht ist nicht per se böse*; aber das Böse kommt immer in Gestalt von Macht.

* Gegen Jacob Burckhardt, der schreibt: „Und nun ist die Macht an sich böse, gleichviel wer sie ausübt.“ (Weltgeschichtliche Betrachtungen, 97)

Zwei Denkarten

Das Denken, das nach Gründen sucht, ist rückwärtsgewandt. Nach vorn richtet sich das Denken, das den Widerspruch will.

Grundgesetz der Veränderung

Die erste Regel jeder Veränderung lautet: Je radikaler mit dem Alten gebrochen wird, desto größer ist die Chance, dass das Neue auch eine Verbesserung darstellt.

Die Dinge laufen lassen

Zur Rehabilitation des „Es“, das in Freuds Strukturmodell noch die Repräsentanz der niederen Beweggründe darstellt, die unmittelbar auf Befriedigung aus sind, könnte beitragen, neu zu bewerten, was der Lauf der Dinge heißt. Dass ohne eigenes Zutun Entscheidendes nicht nur geschieht, sondern wesentlicher Bestandteil wird selbst verantworteter und selbst initiierter Ereignisse, gehört zu den Bescheidenheitsbekundungen des Ich. „Es“ gelingt halt etwas, „es“ widersetzt sich: solche Einsicht muss nicht gleich bedeuten, dass man die Herrschaft über das Wollen verloren hat, dass sich Entschiedenheit und Bestimmtheit nicht hat durchsetzen können. Sondern dass ein Ich klug genug ist zu wissen, dass es mit den persönlichen Allmachtsphantasien nicht weit kommen würde. Wo Es ist, muss Ich werden: Diese psychoanalytische Grundregel verlangt nach einem Korrektiv. Es gilt auch: Wo „es“ geschieht, kann „ich“ lassen.

Entscheidungssouveränität

Es wäre fatal, wenn sich die Würde eines Menschen nur darin erschlösse, dass er souverän zu entscheiden vermag. Umgekehrt ist aber das Talent, selbständig über das eigene Leben zu befinden und dies rechtfertigen zu können, ein bezeichnender Ausdruck dessen, dass die Zuschreibung von Freiheit um der Verantwortlichkeit für solche Entschlüsse willen widerspiegelt, was dem Menschen als Grundrecht zusteht, ja was ihn wesentlich bestimmt.

Bürokratieabbau

Wie groß das Maß von Pflichten, Vorschriften und Gesetzen ist, zeigt unfreiwillig der Versuch, es zu reduzieren: Der Bürokratieabbau wird ganz bürokratisch beschlossen durch ein Gesetz zur Entlastung von derlei Lästigem. Nicht die Regeln aber sind das Problem, sondern die Regulierer. Am wirksamsten ließe sich Bürokratie abbauen, indem man darauf verzichtet, immer neue Bürokraten einzustellen und unter den überflüssig vielen jene zu identifizieren, die ihre Stelle rechtfertigen, indem sie Erlasse und Anordnungen schaffen, welche ihren Posten dann unentbehrlich erscheinen lassen.

Freiheit des Geistes

Die Freiheit des Geistes besteht darin, sich von nichts als guten Gründen abhängig zu machen.

Ohne Absicht, kein Ziel

Gespräche gelingen in dem Maße, wie sie kein Ziel verfolgen und in einer Atmosphäre der Absichtslosigkeit stattfinden. Darin unterscheiden sie sich von allen anderen Arten der Unterredung.

Schweigen oder Verstummen

Aus einer Sonntagslektüre

„Das einzig Schwierige am Schwierigen bleibt das Reden; und zwar nicht, insofern es zu vermeiden ist, sondern insofern nötig wird, es zu vollziehen; denn ohne dieses wird das Schweigen zum Verstummen.“* – Das kann immer ein Anfang sein, und hätte für den Philosophen einer sein können: das Eingeständnis, dass gesagt werden muss, worüber zu sprechen in keiner Weise leicht ist.

* Martin Heidegger, Anmerkungen III 1946/47 (Schwarze Hefte), in: Gesamtausgabe Bd. 97, 271

Stolz aufs Steckenpferd

Oft sind es die nebenberuflichen Obsessionen, die beiläufigen Leidenschaften, das Hobby und die Liebhabereien jenseits des Fachgebiets, die viel größeren Stolz evozieren, wenn nach der Lebensleistung gefragt wird, als das, woran einer sonst sozial gemessen und eingeordnet wird. Es schadet einer Profession in der Regel nicht, wenn der, der sie Tag für Tag ausübt, noch genügend Kräfte hat, ein zweites oder gar drittes Engagement ernsthaft anzudeuten.

Versprechen

Der erste Mensch, der ein Versprechen abgegeben und es gehalten hat, ist der Erfinder von Zukunft als jener Zeit, die gestaltet werden kann.

Ein mythischer Blick auf die letzte Technik

Mit der Einführung dessen, was in der Digitalwelt spatial computing  heißt, von Brillen, die virtuelle Welten, augmented reality oder einen Mix aus beiden erlauben, schreitet die Verschmelzung von Mensch und Maschine ein nächstes großes Stück voran. Und mit ihr die wachsende Schwierigkeit, den Unterschied aufrechtzuerhalten zwischen einer Wirklichkeit, die als lebensweltlicher fester Boden anerkannt ist, die Unfraglichkeit und Gewissheit stiftet, und einer Welt aus Täuschung, Fiktion, Fake oder Lüge. Dieser Unterschied, noch moralisch beschrieben als Erkenntnis des Guten und des Bösen, war im Mythos vom Anfang der Anlass, den Menschen aus dem Paradies zu vertreiben. Nun wird die Differenz eingeebnet, das Weltwesen Mensch an eine Vorstellung gewöhnt, von der er immer mehr angezogen wird, die ihn fasziniert, ja süchtig zu machen vermag, eine künstliche Bilderexistenz, so dass er sie als Fluchtpunkt auserwählt, als Asyl vor den harten und widerständigen Anforderungen des Daseins. Es braucht nicht viel Phantasie, sich Individuen zu denken, die diese abgeleitete, zweite Welt als wahre Heimat empfinden und den Bezug zu den Tatsachen verlieren. Schon Platon hatte sie im Höhlengleichnis ausgeführt. Solche Geschöpfe werden in der Täuschung lieber leben wollen, mit der Fiktion paktieren wider Wahrheit und Präsenz, sich an den Betrug halten und ihn für die eigentliche Wirklichkeit erklären. Das alles ist schon geschehen. Noch lässt sich das eine oder andere Kriterium allerdings angeben, durch das ein solches abgeleitetes Leben entlarvt werden kann als Schein. Noch. Die Tendenz der Technik zielt auf deren Gleichgültigkeit. Der Unterschied zwischen Original und Fälschung, Wahrheit und Irrtum, Echtheit und Lüge, Welt und Scheinwelt wird keine entscheidende Rolle mehr spielen. In dem Augenblick, in dem sie eins zu sein scheinen, geschieht mehr als nur die Einebnung einer jahrtausendealten Differenz. Es geht um Alles oder Nichts: die Fähigkeit, noch vertrauen zu können, das Talent zu glauben. Eine Welt, in der Vertrauen und Glauben verschwunden sind, kennt nur noch Einsame. Sie freiwillig zu suchen und in ihr unbegrenzt Zeit zu verbringen, das kennt der Mythos als Hölle.

Verlustangst

Wann Tiere gefährlich werden: wenn sie etwas zu verlieren haben.
Wann Menschen am gefährlichsten sind: wenn sie nichts zu verlieren haben.

Das Privileg, ja zu sagen

Der Mensch entdeckt sich selbst als freies Lebewesen in dem Augenblick, in dem er die Fähigkeit, nein zu sagen, als Privileg begreift. Und er vollendet dieses Selbstverständnis, frei zu sein, wenn er diesen Vorzug zu negieren als Voraussetzung ansieht, entschieden ja sagen zu können.

Vor dem Urteil

Zwischen dem, was eine alte philosophische Überlieferung Urteilskraft nennt und dem unbedachten Gebrauch von Vorurteilen besteht ein Zusammenhang. Je stärker jene ausgebildet ist, desto geringer ist der Umgang mit diesen. Es war einmal der Adel der Aufklärung, sich den Formen unserer Intoleranz zu widmen, Vorbehalte, Verblendungen oder Voreingenommenheiten zu entlarven und scharf zu kritisieren. Von dieser Kritik scheinen inzwischen nur atemlose Reflexe übrig zu sein, die selber klischeehaft vieles unnötig und übersensibilisiert unter Verdacht stellen und canceln, was den eigenen Vorurteilen zuwider ist. Da herrscht nicht mehr Vernunft, sondern ein neuer ganz und gar dogmatischer Aberglaube, der zwischen Meinen und Wahrheit keinen Unterschied sieht und Lautstärke für deren Kriterium hält.

Die gute Ordnung

Aus einer Sonntagslektüre:

Ich gebe gern zu, dass die öffentliche Ruhe ein großes Gut ist. Indessen will ich nicht übersehen, dass alle Völker auf dem Wege über die gute Ordnung der Gewaltherrschaft verfallen sind … Ein Volk, das von seiner Regierung nichts fordert als das Wahren der Ordnung, ist in seinem Innersten bereits Sklave.“*

* Alexis de Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika II, 208

Generation der Gewissenlosen

Unter denen, die gerade erwachsen geworden sind, gibt es etliche, die nicht ihre Unschuld verloren haben, sondern ihre Schuld. Verlorene Schuld, das meint immer eine unbelastete Erinnerung. Die Gewissenlosigkeit hat keine Geschichte.