Gewöhnungsunbedürftig

Jenseits einer Psychopathologie des narzisstischen Alltagslebens:
Nichts hasst der Narzisst mehr, als dass man sich an ihn gewöhnt. Für den Selbstverliebten ist jeder Kompromiss der unglückliche Versuch, eine Niederlage zu verschleiern. Weil ihm Ich und Du ausschließlich als Alternative erscheinen, erkennt er auch in jeder Entscheidung nur die Wahl zwischen Alles oder Nichts. Aus Mangel an Weltgefühl und fehlendem Ernst in einer Beziehung zu anderen hält er sich jung. Der Mythos verheißt ihm ein langes Leben, so lang er sich nicht selbst erkennt.* Jede Provokation, von ihm ausgehend oder an ihn herangetragen, dient einzig dem Zweck, sich zu spüren. Erst kränkt ihn seltene Aufmerksamkeit, dann macht sie ihn krank. Sein Vernichtungspotential lauert im Zwang, sich steigern zu müssen, um seiner selbst gewiss zu sein. Lieber zerstört der Narzisst alle Erinnerung an ihn, als dass er zulässt, dass man ihn vergisst. Leben ist ihm bis ins Letzte Unterhaltung.

*Ovid, Metamorphosen III, 408