Grenzüberschreitung

Aus dem noch ungeschriebenen Roman:

Er strahlte sie an, als sähe er sie zum ersten Mal wieder nach langer Abwesenheit. „Ich liebe dich. Grenzenlos“, sagte er im Überschwang. Sie trat einen Schritt zurück. Für einen Moment huschte ein Schatten über ihr Gesicht. „Sag das nochmal.“ Er setzte an, dachte, dass ihr die kleine Schmeichelei gefiele: „Ich …“ Da unterbrach sie ihn schon: „Grenzenlos? Weißt du, was das ist: grenzenlose Liebe?“ Ihm schwante, dass er nun, wie so oft, ihren Reflexionsschwall über sich ergehen lassen musste, tausende von Wörtern, wirre, manchmal brillante Gedanken, Sätze aus Zweifeln gebaut, Assoziationsketten, die in ihrer Fülle nur zeigen wollten, dass sie Argumente nicht mehr nötig hatte. „Alles, was grenzenlos sein will, riskiert seine eigene Wirklichkeit, seine Identität. Das gilt für Ideen, Organismen, Organisationen, Staaten und, natürlich, auch für die Liebe. Du kannst nicht mit jedem und jeder befreundet sein, auch wenn du es willst.“ Überrascht von der Heftigkeit ihrer Antwort versuchte er, sich zu rechtfertigen. „Aber ich habe doch nur sagen wollen …“ „Das ist dein Problem“, fiel sie ihm ins Wort. „Du willst immer nur sagen. Und zeigen kannst du es nicht. Da kommst du sehr schnell an deine Grenzen.“ Warum lässt du dich immer so leicht entmutigen, dachte er. Sie hingegen redete sich in Rage: „Weißt du, eine grenzenlose Liebe ist vor allem eines: treulos, mein Schatz. Ist es das, was du mir mitteilen willst? Dass ich dir nicht reiche? Dass meine Beschränkungen dir zu eng sind?“ „Hey, come on. Komm zu dir. Hör auf mit diesen Selbstzweifeln. Du denkst nur quantitativ. Ich meine doch die Qualität meiner Liebe zu dir. Beruhige dich, ja?“ Sie holte tief Luft. „Ja. Danke. Ich komme schon wieder runter.“ Dann allerdings sagte sie etwas, was er so noch nie gehört hatte und was ihn bis tief in die Nacht beschäftigte. „Ich habe Angst, dass du vor Begeisterung über uns die Liebe absolut setzt. Das erträgt sie nicht. Indem ich sie ein wenig kleiner mache, wird sie groß. Nur so können wir sie schützen. Verstehst du?“ Er nickte. Aber noch Stunden später wusste er nicht, ob er das wirklich verstanden hatte. Vielleicht, ging es ihm durch den Kopf, hatte sie ja das Geheimnis der Liebe angesprochen.