Macht der Anmut

In die Männerdomäne des Dirigenten tritt eine Frau*, klein, aber nicht unscheinbar, voller Energie, aber nicht energisch. Sie betritt das Podest, hebt kurz den Taktstock zur anfänglichen Sammlung der Musiker und beginnt. Beginnt mit einem Tanz aus weitgreifenden Streckungen, melodischen Schwüngen, zarten Andeutungen oder entschlossenen Verweisen ins Orchester, das seiner Taktgeberin, die das Brettergestell vor ihrem Pult zu einer großen Bühne weitet, folgsam in jede ihrer Körperregungen hinein mit den schönsten Klängen entspricht. Das Publikum lauscht, alle Sinne weit geöffnet, mindestens Ohren und Augen, gebannt den Instrumenten, die widerspielen, was es sieht: Anmut, Kraft, Präzision, Beherrschtheit. Musik ist gestrichener, gehämmerter und geblasener Tanz; Tanz die heimliche Quelle der Töne. Und nichts ist wahr von der einflussreichen Beschreibung des Dirigenten durch Elias Canetti**, nach der, „was immer er tut, … Licht auf die Natur der Macht (wirft)“. Es sei denn: die Wahrheit der Führung heißt Verführung.

* Mirga Gražinytė-Tyla ist Chefdirigentin des City of Birmingham Symphony Orchestra.
** Masse und Macht, 453ff.