Wo?

Unter den Gottesnamen ist der eine, der die Differenz zwischen Abwesenheit und Anwesenheit aufgehoben hat, der ausgezeichnete: Ich bin, stellt der Weltenherr sich vor im Testament, der, der da ist. Da zu sein, so ist es üblich, bedeutet, woanders nicht sein zu können. Das muss für den, dem die Eigenschaft machtvoller Allgegenwart zugesprochen ist, nicht gelten. Er ist da, was heißt: er ist zudem dort; und darüber hinaus überall. Solchen mythischen Umgang mit Ortsangaben – auch die erste Frage nach dem Menschen ist eine nach seinem Platz in der Welt: Adam, wo bist du? (Gen 3,9) – sollte man im Kopf haben, wenn man liest, was in den Ostererzählungen die drei Frauen angesichts des leeren Grabs zu hören bekommen, die sich aufmachen, den Gekreuzigten zu ehren mit Salben und Ölen: Er ist nicht hier (Matth. 28, 6; Mk. 16, 6; Luk. 24, 6). Nicht da zu sein, meint an dieser Stelle mehr, als nur die gewöhnliche Form der Absenz, die eine Voraussetzung darstellt für Präsenz. Es ist eine Ansage an alles Lebendige, das „Ich bin da“ nicht mehr für eine Ortsangabe zu halten, wie es vor allem dem, was tot ist, endgültig und eindeutig zueignet. Das „Er ist nicht hier“ präzisiert das „Ich bin da“ zu einem „Ich bin bei euch bis ans Ende der Welt“ (Matth. 28, 20). So wird es zum Zeichen zuverlässiger Zuwendung. Frohe Ostern!

Aus den Geschichten lernen

Gefragt, was sich aus den Ostergeschichten lernen ließe. Vor allem dies: die Verwandlung des Glaubens vom Für-wahr-halten ins Vertrauen.

Du Opfer!

Wer verstünde besser als der, dem Gewalt angetan wird, welches ungeheure Ärgernis darin besteht, auf Qual, Foltern und Morden gerade nicht zu antworten mit Gegengewalt? Zum Skandal gerät ein solcher Entschluss, wenn die Möglichkeit zum Widerstand nicht nur gegeben ist, sondern angesichts der Macht, die zur Verfügung steht (als wirtschaftliche oder militärische Potenz, als moralische Autorität oder mittels purer Kraft), geradezu geboten. Wo immer von Gott die Rede ist, fehlt nicht das Beiwort „Herrschaft“, die als absolute gekennzeichnet wird, sobald in Frage steht, was es zu bedeuten hat, Gott genannt zu werden. Dieser Gott hängt nun am Kreuz, über ihn verhängt die brutalste Strafe des Römischen Reichs. Um ihn herum stehen Menschen, die nur darauf warten, verzweifelt oder wie die Spötter, die ihn provozieren, dass irgendetwas Überraschendes, Überwältigendes geschieht. Doch nichts dieser Art passiert. „Du Opfer!“ So riefen wohl heute die Zeugen, hätten sie denn Worte, und sagten in dieser Geste der Verachtung Tieferes, als sie wohl geahnt hätten. Die Situation ist unerträglich. Ein skandalon*, nennt es der erste Theologe, Paulus (1. Kor. 1, 18). Das, was unerträglich ist, aber zu ertragen, das ist das Wesen dessen, der verurteilt wurde wegen der Anmaßung, der von Gott Gesandte zu sein. Was könnte den Anspruch, es zu sein, deutlicher bestätigt haben als diese unermessliche Stärke: Unaushaltbares auszuhalten. Das andere Machtzeichen, auf das alle warteten und das manche erhofften, indes bleibt aus. So wird das Wort vom Kreuz zum Anstößigen für jene, die über es hinweggehen, und zum Anstoß für jene anderen, die sich betreffen lassen. Hier zeigt sich, wer die Menschen sind. Und hier will sich zeigen, wer Gott ist: der nämlich, dem Gewalt so zuwider ist, dass er von ihr keinen Gebrauch macht, um sie niederzuhalten, sondern der ihr die größte Kraft entgegensetzt, der sich am Ende keiner erwehren kann: eine Liebe, deren Wesen ist zu verzeihen.

* Ursprünglich stand der Ausdruck für den Auslöser in einer Falle

Das Geheimnis von Gemeinschaft

Keine Zeit im christlichen Festkalender ist so vollgepackt mit Symbolen wie die österliche. Was auch immer der Kirche an Zeichen zur Verfügung steht, um sinnbildlich auszudrücken, um was es ihr geht, stammt aus den Erzählungen vom Leiden, vom Sterben und, nicht zuletzt, von der Auferstehung des Weltenherrn. Nur dass der Bedeutungsreichtum solcher Repräsentationen immer verweist auf das eine Geschehen in Jerusalem. Und kaum taugt als Signatur für allgemeine Lebensfragen: das letzte Abendmahl als Sinnbild für eine gelungene Form von Tischgemeinschaft, die Kreuzigung exemplarisch für die Sterblichkeit des Menschen und das leere Grab als Hort unserer überzeitlichen Hoffnungen. Nein, die Berichte vom letzten Weg Jesu tragen alle das Bemühen, dem Ereignis seinen Realitätsgehalt abzuringen, so wenig wie möglich wegzunehmen von der Einmaligkeit und Härte eines unerträglichen Gangs. Jesus selbst wird da zum Symbol für das, was Menschen einander antun können, und, vor allem, für das, was Gott dennoch daraus machen will. Da leidet und endet einer für alle ein für allemal. Das zeigt sich schon beim letzten Abendmahl, das in jeder Geste das Geheimnis dieser Gemeinschaft anklingen lässt (weil einer es lebt), einer Versammlung von Menschen, die in dem Maße glücken könnte, wie die einzelnen in ihr nichts anderes wollen, als den jeweils anderen zu dienen, ohne auf Verdienst und Verdienste zu achten. Sie ist das genaue Gegenteil dessen, was wir heute als Erfolgsgemeinschaft idealisieren.

Große Fragen

Die großen Fragen vereint alle, dass es auf sie keine andere Antwort gibt, als sie zu ertragen.

Aufgestöbert, durchgestöbert

Kistenweise sind neue Bücher ins Haus gekommen, die Folge eines Nachlasses. Der Verstorbene hatte viel gelesen und noch mehr gekauft. Überraschend, wie gering die Zahl der Dubletten ist, obwohl die archivierten Lektürevorlieben sich in die eigenen Interessen erkennbar fügen. Schon erstaunlich, wie viel unentdeckt oder unvertraut geblieben ist trotz der verblüffenden Nähe zum eigenen Geschmack. Ein solcher plötzlicher Bibliothekszuwachs verändert das Verhalten und provoziert die Neugier: statt zu lesen, ertappt man sich beim tagelangen Stöbern. Die neuen Nachbarn wollen sich vorstellen, ohne gleich genau unter die Lupe genommen zu werden. Zuletzt Einübung in eine paradoxe Tätigkeit: das zufällige Finden wird zur Kunstform entwickelt.

Außer Form

Ein Inhalt, der nur der Form zu genügen hat, verliert sich selbst. Zurück bleibt die Form, die nichts ist als hohl.

Verstanden

In Wahrheit nichts zu verstehen außer dieses eine: zu erleben, wie man immer schon verstanden ist, das gehört zu den tiefsten Wirkungen der Liebe.

Massenvernichtung

Aus einer Samstagabendlektüre

„Dass Kriege so lange dauern können, dass sie noch weitergeführt werden, wenn sie längst verloren sind, hängt mit dem tiefsten Triebe der Masse zusammen, sich in ihrem akuten Zustand zu erhalten, nicht zu zerfallen, Masse zu bleiben. Dieses Gefühl ist manchmal so stark, dass man es vorzieht, sehenden Auges zusammen zugrunde zu gehen, statt die Niederlage anzuerkennen und damit den Zerfall der eigenen Masse zu erleben.“*

* Elias Canetti, Masse und Macht, 47f.

Fehlen des Mitleids

In jedem Ratschlag versteckt sich ein Mangel an Mitleid. Er ist die abgelenkte Form einer Verweigerung, der Ablehnung von Begleitung, und so die Abstraktion einer geschuldeten Hilfe.

Massenhaft

Gedanken vor Palmsonntag: Nichts macht so einsam wie die Liebeserklärung einer Masse. Wo das Volk jubelt, steht es am Wegrand und geht nicht mehr mit. Das vereint beide, die Begeisterten, die „Hosianna“ rufen, und die Feindseligen, die schreien „Kreuzige ihn!“, dass sie nicht mehr mitziehen, sondern sich ein endgültiges Urteil gebildet haben. Sie sind zu Schaulustigen geworden; die einst Verbündeten haben sich gewandelt in enthusiastische oder enttäuschte Kritiker. Vor lauter Sehnsucht nach Erlösung vergisst die ekstatische Menge, dass alles darauf ankommt, das eigene Leben zu ändern.

Auch ein Loblied

Man ehrt den Gott, der sich als Wort offenbart, auch, indem man den Reichtum des Ausdrucks nicht so weit verkümmern lässt, dass sich am Ende nicht mehr genau sagen lässt, was ist, so dass auch nicht mehr gehört werden kann, was zu sagen sei. Das Reden lebendig und kräftig zu erhalten, präzise und wahr, singt immer ein Loblied mit auf die weltschaffende und weltverändernde Macht der Sprache, die im Wort, als das Gott sich identifiziert, zwischen Versprechen und Verzeihen den rettenden Ausweg markiert.

Freundschaft mit Kalau

Freundschaft: die Beziehung mit dem geringsten Peinlichkeitspotential bei höchster Kalauerkompetenz.

Böse Macht

Macht ist nicht per se böse*; aber das Böse kommt immer in Gestalt von Macht.

* Gegen Jacob Burckhardt, der schreibt: „Und nun ist die Macht an sich böse, gleichviel wer sie ausübt.“ (Weltgeschichtliche Betrachtungen, 97)

Zwei Denkarten

Das Denken, das nach Gründen sucht, ist rückwärtsgewandt. Nach vorn richtet sich das Denken, das den Widerspruch will.

Grundgesetz der Veränderung

Die erste Regel jeder Veränderung lautet: Je radikaler mit dem Alten gebrochen wird, desto größer ist die Chance, dass das Neue auch eine Verbesserung darstellt.

Die Dinge laufen lassen

Zur Rehabilitation des „Es“, das in Freuds Strukturmodell noch die Repräsentanz der niederen Beweggründe darstellt, die unmittelbar auf Befriedigung aus sind, könnte beitragen, neu zu bewerten, was der Lauf der Dinge heißt. Dass ohne eigenes Zutun Entscheidendes nicht nur geschieht, sondern wesentlicher Bestandteil wird selbst verantworteter und selbst initiierter Ereignisse, gehört zu den Bescheidenheitsbekundungen des Ich. „Es“ gelingt halt etwas, „es“ widersetzt sich: solche Einsicht muss nicht gleich bedeuten, dass man die Herrschaft über das Wollen verloren hat, dass sich Entschiedenheit und Bestimmtheit nicht hat durchsetzen können. Sondern dass ein Ich klug genug ist zu wissen, dass es mit den persönlichen Allmachtsphantasien nicht weit kommen würde. Wo Es ist, muss Ich werden: Diese psychoanalytische Grundregel verlangt nach einem Korrektiv. Es gilt auch: Wo „es“ geschieht, kann „ich“ lassen.

Entscheidungssouveränität

Es wäre fatal, wenn sich die Würde eines Menschen nur darin erschlösse, dass er souverän zu entscheiden vermag. Umgekehrt ist aber das Talent, selbständig über das eigene Leben zu befinden und dies rechtfertigen zu können, ein bezeichnender Ausdruck dessen, dass die Zuschreibung von Freiheit um der Verantwortlichkeit für solche Entschlüsse willen widerspiegelt, was dem Menschen als Grundrecht zusteht, ja was ihn wesentlich bestimmt.

Bürokratieabbau

Wie groß das Maß von Pflichten, Vorschriften und Gesetzen ist, zeigt unfreiwillig der Versuch, es zu reduzieren: Der Bürokratieabbau wird ganz bürokratisch beschlossen durch ein Gesetz zur Entlastung von derlei Lästigem. Nicht die Regeln aber sind das Problem, sondern die Regulierer. Am wirksamsten ließe sich Bürokratie abbauen, indem man darauf verzichtet, immer neue Bürokraten einzustellen und unter den überflüssig vielen jene zu identifizieren, die ihre Stelle rechtfertigen, indem sie Erlasse und Anordnungen schaffen, welche ihren Posten dann unentbehrlich erscheinen lassen.

Freiheit des Geistes

Die Freiheit des Geistes besteht darin, sich von nichts als guten Gründen abhängig zu machen.

Ohne Absicht, kein Ziel

Gespräche gelingen in dem Maße, wie sie kein Ziel verfolgen und in einer Atmosphäre der Absichtslosigkeit stattfinden. Darin unterscheiden sie sich von allen anderen Arten der Unterredung.

Schweigen oder Verstummen

Aus einer Sonntagslektüre

„Das einzig Schwierige am Schwierigen bleibt das Reden; und zwar nicht, insofern es zu vermeiden ist, sondern insofern nötig wird, es zu vollziehen; denn ohne dieses wird das Schweigen zum Verstummen.“* – Das kann immer ein Anfang sein, und hätte für den Philosophen einer sein können: das Eingeständnis, dass gesagt werden muss, worüber zu sprechen in keiner Weise leicht ist.

* Martin Heidegger, Anmerkungen III 1946/47 (Schwarze Hefte), in: Gesamtausgabe Bd. 97, 271

Stolz aufs Steckenpferd

Oft sind es die nebenberuflichen Obsessionen, die beiläufigen Leidenschaften, das Hobby und die Liebhabereien jenseits des Fachgebiets, die viel größeren Stolz evozieren, wenn nach der Lebensleistung gefragt wird, als das, woran einer sonst sozial gemessen und eingeordnet wird. Es schadet einer Profession in der Regel nicht, wenn der, der sie Tag für Tag ausübt, noch genügend Kräfte hat, ein zweites oder gar drittes Engagement ernsthaft anzudeuten.

Versprechen

Der erste Mensch, der ein Versprechen abgegeben und es gehalten hat, ist der Erfinder von Zukunft als jener Zeit, die gestaltet werden kann.