Monat: Januar 2017

Nachrichtensperre

Die größte Strafe für den Selbstverliebten ist nicht der Widerstand gegen ihn; darin fühlt er sich nur angemessen aufgewertet. Sie ist die Ignoranz, weil ihn nichts mehr langweilt als die Not, sich mit sich selbst abgeben zu müssen.

Erreichbarkeit

Ziel: die Sache, die ich erreichen will.
Zweck: die Sache, die mich erreicht hat.

Überraschungscoup

Es ist verblüffend, wie oft einer Minderheit gelingt, sich gegen den Mehrheitswillen durchzusetzen. Was macht die Dreistigkeit so erfolgreich? Warum siegt der Unverschämte meist im ersten Moment über die höfliche Umgangsform? Weshalb lässt sich die kluge Ordnung schockieren von der Unberechenbarkeit eines Einzelnen? Hinter jeder Überrumpelung steht das Erstaunen, dass Macht ihre Überlegenheit nicht aus der Quantität gewinnt. Es ist nicht die Vielzahl, die entscheidet, sondern deren Organisation. Und die ist ungleich schwieriger bei einer Majorität als unter den Wenigen, die hemmungslos genug sind, die Herrschaft an sich zu reißen.

Denken, Sprechen

Sieben Thesen zur Sprache:

  1. An der Sprache fasziniert den Menschen, dass er eine ganze Welt – nicht nur mitreißen, sondern vor allem – bilden kann.
  2. In der Sprache meint der Mensch eine Heimat zu finden, eine Parallelwelt zu seinen Lebenswirklichkeiten.
  3. Durch die Sprache orientiert sich der Mensch in seinen sozialen, psychischen oder ökonomischen Verhältnissen.
  4. Mit der Sprache beschreibt und bestimmt der Mensch einen Raum, in dem über Hierarchien, Wertigkeiten, Distanz und Nähe zu den Dingen oder zu Menschen entschieden wird.
  5. Über die Sprache täuscht sich der Mensch, weil er ihr, begeistert von ihren aufwendigen Leistungen, zu viel zumutet.
  6. Zur Sprache muss der Mensch eine kritische Einstellung entwickeln, will er sich nicht von ihr über seine Möglichkeiten betrügen lassen.
  7. Gegen die Sprache kann er allerdings nicht andenken, da sie niemals bloß ein Mittel des Geistes ist, sondern Geist selbst, so dass geistlos genannt zu werden verdient, wer sie nur als Mittel einsetzt.

Wieso, weshalb, warum?

Bei großen Themen wie der Liebe oder einer Krankheit taugt die Warumfrage allenfalls als intellektuelle Richtschnur für die Suche nach Trost. Angesichts der Komplexität solcher Lebenseinschnitte ist der Abschied von Kausalitätsvorstellungen so zwingend, wie er den, der fragt, mit sich allein lässt und ihn zuweilen verführt, irgendeinen Grund anzunehmen für das, was ihn getroffen hat. Es gibt – schwer auszuhalten – tiefgreifende Wirkungen, die keine Ursache haben.

Wohin des Wegs?

Metapher des Menschlichen: Zielunbestimmtheit ist nicht selten das Los derer, die nicht ziellos sein wollen. Was man zu erreichen hoffte, erschließt sich erst, wenn man angekommen ist.

Die Pünktlichkeitsoffensive der Bahn zeigt erste Früchte: Am Hauptbahnhof in Hamburg fallen nur noch die Buchstaben aus, die Züge hingegen fahren

Belastungstest

Alte Wahrheit, neu entdeckt:
In dem Maße, wie wir uns vor der Verantwortung drücken, wird Freiheit zu einer Belastung, der wir nicht gewachsen sind.

Der Preis der Genauigkeit

Armut in der Sprache ist oft der Preis für ein Denken, das sich dem Ideal der Exaktheit absolut verpflichtet sieht.

Gewöhnungsunbedürftig

Jenseits einer Psychopathologie des narzisstischen Alltagslebens:
Nichts hasst der Narzisst mehr, als dass man sich an ihn gewöhnt. Für den Selbstverliebten ist jeder Kompromiss der unglückliche Versuch, eine Niederlage zu verschleiern. Weil ihm Ich und Du ausschließlich als Alternative erscheinen, erkennt er auch in jeder Entscheidung nur die Wahl zwischen Alles oder Nichts. Aus Mangel an Weltgefühl und fehlendem Ernst in einer Beziehung zu anderen hält er sich jung. Der Mythos verheißt ihm ein langes Leben, so lang er sich nicht selbst erkennt.* Jede Provokation, von ihm ausgehend oder an ihn herangetragen, dient einzig dem Zweck, sich zu spüren. Erst kränkt ihn seltene Aufmerksamkeit, dann macht sie ihn krank. Sein Vernichtungspotential lauert im Zwang, sich steigern zu müssen, um seiner selbst gewiss zu sein. Lieber zerstört der Narzisst alle Erinnerung an ihn, als dass er zulässt, dass man ihn vergisst. Leben ist ihm bis ins Letzte Unterhaltung.

*Ovid, Metamorphosen III, 408

Wahrhaft, ein Dreisatz

Wir können lügen, weil wir frei sind.
Indem wir lügen, gefährden wir unsere Freiheit.
Wer seine Freiheit schätzt, liebt Wahrheit.

Die Wahrheit des Dilettanten

Nirgendwo wird eine Sache ehrlicher verfolgt als dort, wo sie dilettantisch betrieben wird. Mangels Perfektion wird die liebevolle Beziehung deutlich, die einer zu ihr entwickelt hat.

Politischer Spieltrieb

So manche politische Wahlentscheidung der jüngeren Vergangenheit mag nicht zuletzt jenem fatalen Spieltrieb vieler Individuen entstammen, die mit ihrem Ohnmachtsgefühl so vertraut geworden sind, dass sie nicht glauben wollen, wie folgenreich jeder Willensausdruck sein kann. Auch ein über Jahre wiederholtes, wütend oder verärgert gesetztes Kreuz auf dem Wahlzettel hat irgendwann Folgen, die mehr bedeuten, als dass einer sich frustriert arrangiert hat mit dem Empfinden eigener Impotenz. Demokratie lebt von der spannungsreichen Beziehung zwischen Verantwortungsübernahme und Verantwortungsdelegation: Jeder, der abstimmt, sollte so handeln, als würde er für die Einstellung, die er in seinem Entschluss formuliert, selber gewählt werden und müsste diese Haltung nun vor allen sinnvoll vertreten.

Angstfrei

Am Nachbartisch:
„Ich habe vor nichts Angst“, sagt er selbstbewusst.
„Dann lebst du nicht“, erwidert sie knapp.
„Das Gegenteil würde ich dir gern heute Abend noch beweisen“, flüstert er.
„Mal sehen“, reagiert sie unbeeindruckt. „Angst haben bedeutet, sich in etwas nicht auskennen. Mal abgesehen, dass mir gerade eine Menge Sachen einfallen, die dir unbekannt sind: Eines lernt kein Mensch zu verstehen, seinen eigenen Tod.“
„Du machst mir Angst“, grinst er.

Voller Pläne

Der Visionär ist ein Chronist der Zukunft.

Hemmungen aufbauen!

Wodurch wird ein Erlebnis zu einer Erfahrung? Durch Widerstand. Dass er im Zeitalter des freien Zugangs, digitaler Zeitgleichheit und Grenzfreiheit schwächer wird, mag der entscheidende Grund sein für eine Gesellschaft, die auf ihre Erlebnisvielfalt setzt, aber weniger vom Erfahrungsreichtum zehrt.

Mehr Kultur

Eine einfache Bestimmung von Kultur: sie ist die Voraussetzung, eine Sache besser zu verstehen, als diese sich selbst verstehen kann.

Vermessung der Intelligenz

Klugheit: Intelligenz plus Weitsicht.
Schlauheit: Intelligenz plus Taktik.
Bauernschläue: Intelligenz plus Taktik minus Klugheit.

Lob des Umwegs

Der kurze Draht, der zwischen zwei Menschen gespannt ist, bildet sich selten über deren Geradlinigkeit, sondern hängt an deren Langmut, mit der sie eine Beziehung pflegen.

Wenn das Gehirn gähnt

Die infame Form der Langeweile hat eine Namen. Sie heißt Phrase. Wer mit Gemeinplätzen sein Reden füllt, ermüdet nicht nur; er verdummt mutwillig.

Machtspiele

Der Tyrann von heute ist ein Spieler.

Risikomanagement

Ein Risiko einzugehen bedeutet, dass Menschen sich einer Situation freiwillig aussetzen, von der sie wissen, dass das in ihr Nützliche für sie zugleich auch das Bedrohliche darstellt und das Bedrohliche ihnen im selben Maße nützlich sein kann.

Atmosphären, in denen Lügen gedeihen

Harmonie mag die Grundschicht sein, auf der der eigene Seelenfrieden still gedeiht, aber sie ist immer auch der fruchtbare Nährboden für Verlogenheit.

Organisationstalent

So manches Unternehmen hat sich um das Versprechen organisiert, dass der Wille der Einzelnen, auf der Karriereleiter nach oben zu klettern, genügt, um alle erfolgreich sein zu lassen.

Ein Augenzwinkern zur Unzeit

Wie leicht der Spaß ins Erhabene fallen kann, ein kleiner Ulk für das große Universale stehen, wie nahe der Humor dem Ernste kommt oder ein unbedachtes Augenzwinkern mindestens private Weltgeschichte zu schreiben vermag, das alles symbolisiert die Sprache, die zwischen dem Komischen und dem Kosmischen nicht einmal einen tönenden Laut, sondern nur einen Konsonanten setzt.