Monat: August 2017

Eines, Vieles

Nur durch Mustererkennung gelingt, dem Vielen gerecht zu werden, ohne das Eine zu vernachlässigen. Vielleicht ist diese Fähigkeit das, was Intelligenz im Kern auszeichnet: sich nicht zu überfordern durch die ungezählte Vielzahl an Individualitäten, verallgemeinern zu können und gleichzeitig vom Besonderen nicht absehen zu müssen. Krankheiten sind so zu identifizieren, eine individualisierte Medizin setzt sich an die Stelle der Hoffnung auf eine personalisierte. Verbrechen lassen sich so bekämpfen; Verkehrsströme eleganter lenken. Nicht zuletzt sind es gemeinsame Muster, über die sich Menschen in Beziehungen organisieren und durch sie diese Verhältnisse stabilisieren.

Anschauung und Begriff

In der Art, wie sie die flüchtigen Begegnungen ihres Lebens ablegen, lassen sich viele unterscheiden. Sie ordnen Erinnerungen nach der klassischen Differenz von Anschauung und Begriff: Die einen merken sich die Gesichter, wissen aber nicht mehr, wie die Person heißt; anderen ist der Name präsent, ohne dass sie diesem eine genaue Vorstellung zuordnen können.

Kompetenzkompetenz

Die Hauptbedingung von Kompetenz ist Ignoranz. Das, was weggelassen wird, wertet das, was übrig bleibt, auf.

Riskierte Intelligenz

Was dem Menschen als Schöpfer künstlicher Intelligenz fehlt, ist eine Souveränitätsbedingung seines Handelns, die im Verhältnis zu selbstlernenden Maschinen garantiert, dass diese sich nicht gegen ihren Urheber existenzgefährdend richten können. Wir verstehen nicht mehr die Programmcodes, nach denen Roboter (und das müssen keine Kriegswerkzeuge sein) ihre „Entscheidungen“ treffen. Einseitige Transparenz ist aber eine Machtstruktur, die das Überleben sichert. Nichts anderes meint der betende Psalmist, der auf die Frage antwortet, was der Mensch sei im Verhältnis zu seinem Schöpfer, dass er nur „ein wenig niedriger“ (Ps. 8,6) gemacht sei: im Besitz von allen Eigenschaften bis auf die eine entscheidende, durchschauen zu können.

Liebesflüstern

Auf das Geheimnis ihrer Liebe angesprochen, sagte sie spontan: Phantasie. Und er, ebenso ohne zu zögern: Realitätssinn. Die beiden Wörter überlagerten sich, die Blicke der beiden trafen sich kurz erstaunt; so viel Ehrlichkeit, so viel Fremdheit.

Ganz Ohr

Warum gibt es keine Entsprechung im Hören zu jenen Sätzen, die, sobald sie ausgesprochen, fähig sind, Wirklichkeiten zu erschaffen? Was in der Sprachwissenschaft „performativ“ heißt, ein Reden, das die Welt verändert, weil es nie nur Reden ist, müsste doch in der wichtigsten und kunstvollsten Form der Kommunikation, dem Aufmerken auf das, was ein anderer sagt, sich widerspiegeln. Man darf annehmen, dass es ein Zuhören gibt, das durchaus ein mindestens so wirkungsvolles Handeln darstellt wie jedes ausgesprochene Wort.

Kein letztes Wort

Solange wir eine Zukunft haben, besteht ihr Versprechen darin, dass wir zur eigenen Vergangenheit jederzeit neu Stellung nehmen können.

Widerstand nicht zwecklos

Es ist verblüffend zu sehen, mit welcher Rasanz Wirklichkeit ihre Bedeutung verliert. Sie ist ja nie nur einfach da, als das, was „faktisch“ genannt zu werden verdient, sondern übernimmt vor allem zwei Funktionen: den Auswüchsen unserer Phantasie, Wünschen und Vorstellungen jederzeit Widerstand zu bieten, an dem sich abzuarbeiten eine entscheidende Aufgabe in der Entwicklung eines Bewusstseins darstellt, und nicht zuletzt Maßstab zu sein, an dem sich prüfen lässt, wie wahr unsere Behauptungen sind. Beides verflüchtigt sich in dem großen Achselzucken, das unsere Zeit kennzeichnet und durch das sie sich erlaubt, alles mögliche zu sagen, ohne große Folgen fürchten zu müssen. Widerstände, Anstrengung, ja Hartnäckigkeit, sie alle werden leichthin deklariert als ein Phänomen, das nicht einsichtig genug gewesen ist und dem mit eleganter Geste auszuweichen zur Kleinkunst des modernen Lebens gehört.

Danke. Kein Problem

Wir haben verlernt zu danken für all das, was sich keiner Leistung verdankt, weil es sich nicht leisten lässt: die Gegenwart eines Menschen, die Schönheit der Natur, die Anmut einer Begegnung, die Einfühlsamkeit eines Zuhörers, die Zeit als Geschenk, das Schöpferische eines Gedankens … Dankbarkeit, der Dank ohne Adressat, setzt das Gespür voraus, dass sich in dieser Welt nichts von selbst versteht, gerade dann, wenn es als selbstverständlich erscheint.

Ich und Du

Das Wir ist das unbestimmteste unter den Personalpronomen, jederzeit bereit, aufgelöst zu werden in das Ich, das sich versteckt hält, bis der Augenblick gekommen ist, den Applaus, der allen gilt, auf sich umzulenken, und in das Du, das hinausgestoßen wird aus dem Verband der Vielen, wenn es gilt, einen Schuldigen zu finden für das, was misslungen ist. All die unterschiedlichen Formen, unter denen das Wir auftritt: das Kollektiv, die Gesellschaft, die Gemeinschaft, das Paar, die Gruppe, – sie alle bezeugen nur, dass sich ein Wir weder klar ansprechen noch gut aussprechen lässt.

Lob der Vergesslichkeit

Man überfrachtet das Gedächtnis mit moralischen Ansprüchen, wenn man die Erinnerung an bestimmte Ereignisse oder Menschen als eine Form der Wertschätzung ansieht. Viel größer ist doch die Zahl jener Situationen und Personen, die man besser dadurch „würdigt“, dass man sie diskret vergisst.

Gartenarbeit

Die Vorliebe des Philosophen für den Garten und das Gärtnern, die seit Platons Gründung der Akademie in einem Olivenhain verbürgt ist und mit Voltaires Schlusspointe im „Candide“* weltberühmt wurde, hat einen einfachen Grund: Hier wie dort, in der Philosophie wie in der häuslichen Grünanlage gibt es keinen Fortschritt. Kultivieren und Denken meint dasselbe – immer wieder von vorn zu beginnen.

* „Gut gesagt, aber unser Garten muss bestellt werden.“

Dreimal Liebe

Aus dem noch ungeschriebenen Roman:

Still lagen sie nebeneinander, erschöpft von den Zärtlichkeiten, die sie einander geschenkt hatten. Er lauschte ihrem Herzklopfen, dem tiefen Atmen, dem rhythmischen Auf und Ab ihrer hellen Brüste und drückte sich fester in ihre Umarmung.
„Weißt du, eigentlich bin ich ein sehr genügsamer Mensch“, sagte sie unversehens.
„Das habe ich schon bemerkt“, gab er zur Antwort.
„Ich brauche kein Haus, kein Auto, kein teures Smartphone, keinen Kleiderschrank Weiterlesen

Wie geht es dir?

Man weiß immer sehr viel genauer, die eigene Stimmung zu benennen, wenn man sich in schlechter Verfassung sieht, als in den glücklichen Momenten. Die ehrlichste Antwort des Vergnügten auf die Frage: wie geht es dir?, kann nur lauten: Keine Ahnung. Nichts gibt weniger Anlass, sich mit sich zu beschäftigen, als das Wohlbefinden.

Kenntnisreich

Einen Menschen kennen meint, immer wieder davon überrascht zu sein, dass einen nichts überrascht, was man zu sehen und zu hören bekommt. Das ist grundverschieden von der Weise, wie wir Dinge kennen.

Fremd

Schon durch die Nennung bleibt „fremd“ nicht mehr fremd. Es hat sich eingefügt in die vertraute Grammatik einer Sprache, gerät unversehens durch die Beschreibung, was es denn nun genau sei, das da unbekannt und ungewohnt sich präsentiert, in die eigene Diktion. Das Denken bemächtigt sich des Fremden und schafft es in dem Maße, wie es sich systemisch gibt, die Unterscheidung zwischen dem Innen, dem Zugehörigen, und dem Außen, dem Sperrigen, als eine Differenz des Innen selbst aufscheinen zu lassen. Wir lesen das, wir reflektieren es, wir können es nicht anders ausdrücken – und wissen doch, dass es nicht stimmt.

Person und Werk

Niemand widerspricht dem Satz, dass der Mensch nicht auf seine Taten reduziert werden dürfe, stärker als der Künstler. Und keiner lebt von dieser Unterscheidung mehr als er. Denn jedes neue Werk entsteht aus der tiefen Verzweiflung, dass wieder nicht gelungen war, sich im eigenen Schaffen ganz und gar zu verkörpern.

Heilsame Unterbrechung

Im Gespräch mit der „Wirtschaftswoche“ zur Psychopathologie des digitalen Alltagslebens: „Das ,Es‘ der digitalen Technik hat sich, psychoanalytisch gesprochen, an die Stelle des ,Ich‘ gesetzt. Die Faszination des Digitalen beruht ja darauf, dass wir zum Medium der Technik werden können und dadurch ihre Vorteile genießen, anstatt umgekehrt die Technik zu unserem Medium zu machen. Das könnte man die vierte der großen Kränkungen der Menschheit nennen: die digitale Kränkung.“ Mehr hier …

Freund, Feind

Es gibt Freundschaften, die sich als gepflegte Feindschaften darstellen. Umgekehrt ist das nicht möglich.

Mehr loben, besser schmeicheln

Das ideale Interview beginnt mit einer ausgedehnten Lob- und Schmeichelrede auf den Gesprächspartner, die genau so lang dauert, bis dieser beginnt, sich um Kopf und Kragen zu reden.

Betrug durch Grammatik

Selten wird grammatikalisch heftiger betrogen als in dem Satz: Ich warte. Was ist das für ein „Ich“, das sich selbst zum Passiv verdammt, sich zurücknimmt bis zur Selbstaufgabe, in eine Halteposition einzwängt. Alles, was ein Ich auszeichnet: Gestaltungswille, Entschiedenheit, Handlungslust, wird im Warten versteckt hinter moralischen Größen wie der Geduld. Die Wahrheit ist indes, dass in den meisten Fällen Menschen unfreiwillig warten, verlegen in der Beschreibung ihres Loses: Wer wartet? Ein Ich, das sich nicht auszusprechen wagt, weil es sich zum Verharren meist nicht entschlossen hat. Warten ist ein Zustand, der kein Personalpronomen verdient.

Spiel mit dem Feuer

Das „Spiel mit dem Feuer“ ist metaphorisch der Ort, an dem die Sprache der Wirklichkeit am nächsten kommt.

Boden unter den Füßen

Es ist eines der größeren metaphorischen Missverständnisse zu glauben, es gebe ein himmlisches Glück. Im Gegenteil. Glück hat mit Erdung zu tun, ist ein anderer Name für Erträglichkeit und Getragensein. Seine schönste Bestimmung: Es ist so viel möglich, weil immer noch mehr selbstverständlich ist.

Nur nichts verpassen

Wann der Urlaub gelungen ist? Wenn wir wieder verstehen, wie viel wir versäumen, wenn wir meinen, nichts versäumen zu dürfen.