Monat: September 2017

Wortfindungsstörung

Man kann sich das Denken als Folge einer Wortfindungsstörung vorstellen. Weil wieder nicht der vollkommene Ausdruck für eine Sache gefunden wurde und das schöpferische Organ versagt hat, indem es einfach statt des verfehlten Begriffs eine bisher ungehörte Sprachschöpfung als Ersatz anbietet, müssen ganze Sätze einspringen und mit diesen schlüssige Satzfolgen, um dem Phänomen so gerecht zu werden, dass es vernünftig beschrieben werden kann. Denken bedeutet, einen Sprachmangel zu kompensieren.

Blaues Blut

Es gibt Hunde, die von so aristokratischer Anmut sind, dass sie nur zu gehorchen scheinen, wenn man sie siezt.

Enttäuscht?

Jede Kommunikation beginnt in dem Augenblick interessant zu werden, in dem eine Erwartung enttäuscht wurde.

Am Ende entscheidet der Souverän

Nicht das ist ein Problem, dass die meisten Politikerreden im Wahlkampf weniger der Urteilsfindung dienen als der gefälligen Bestätigung von Vorurteilen. Die Schwierigkeit besteht vielmehr darin, dass viele Bürger den Unterschied nicht mehr kennen, eine Differenz, die konstitutiv ist für die Demokratie.

Digitale Regression

Die einzige Form, in der er fähig ist, seine Gefühle auszudrücken, ist das Emoticon – ein Strichmännchen, das ihn in seinen vereinfachten Minigrimassen an die ersten Kopffüßler-Zeichnungen erinnert, mit denen er seine Empfindungen einst anschaulich zu vermitteln versuchte.

Alterserscheinungen

Vielleicht ist das eine der passendsten Beschreibungen des Alters: das Ich zieht sich unauffällig aus dem Wir zurück. Es wächst die eigene Empfindlichkeit bei gleichzeitiger Zunahme der Stumpfheit gegenüber anderen.

Ohrenlider

Zu den kaum vermeidbaren Ärgernissen einer Fahrt in öffentlichen Verkehrsmitteln gehört seit jeher das lautstarke Gerede einzelner, zuweilen über viele hundert Kilometer, durch das sie den Rest eines Abteils in eine ungewollte Aufmerksamkeit zwingen. Mit dem verstärkten Einsatz von Großraumwagons bei der Bahn ist zwar die Rücksicht solcher ungehemmten Liebhaber des ungepflegten Monologs nicht gewachsen, aber deren Wirkungsgrad. So mancher unter all denen, die sich diesem Wortschwall wehrlos ausgesetzt sehen, mag sich fragen, ob diese großen Kommunikatoren nur berauscht sind von der eigenen Stimme, ob sie glauben, allein durch Satzmasse das Gegenüber beeindrucken zu können, ob sie nicht verstehen, dass noch das blödeste Reden Gehör finden will – und nicht den drängenden Wunsch erzeugen, es möge ein für allemal verstummen. Was hat es evolutionsbiologisch zu bedeuten, dass wir zwar mit Augenlidern ausgestattet sind, nicht aber mit Ohrenklappen (von Nasenfiltern ganz zu schweigen)? Wer hat da geschlampt? Wenn es die natürliche und überlebensnotwendige Bereitschaft ist, jederzeit zurückgerufen werden zu können aus Schlaf- und Dämmerzuständen, dann vergeht sich der reisende Dampfplauderer an einer unserer größten Begabungen: dem Talent, aufgeweckt zu sein.