Monat: Oktober 2017

Bedingungslos

Unter allen Sätzen Luthers ist die letzte These der „Heidelberger Disputation“ von 1518 der wichtigste: „Die Liebe Gottes findet nicht vor, sondern schafft sich, was sie liebt. Die Liebe des Menschen entsteht nur an dem, was sie liebenswert findet.“ Größeres lässt sich über das Größte, die Liebe Gottes, nicht sagen, Ehrlicheres nicht über das, wozu wir allzu menschlich Liebenden im besten Fall fähig sind. Schöner lässt sich über Barmherzigkeit nicht erzählen; erträglicher unser Dasein nicht beschreiben. Nichts tun müssen, um angenommen zu sein. Nichts hinzutun können, weil alles schon getan ist.

Das kurze Leben, die lange Kunst

Das Argument ist die Erfindung eines Geistes, der es leid war, den anderen durch schier endloses Reden in die Erschöpfung zu treiben, und der nach einem Mittel gesucht hatte, den Prozess der Übereinkunft abzukürzen. Die amerikanische Institution des Filibuster, jenes Dauerredens im Senat, das einer Minderheit erlaubt, Mehrheitsbeschlüsse aufzuhalten, ist die vielleicht klarste Erinnerung an das, was einst noch nicht Überzeugung hieß und doch auf die zwanglose Zustimmung zielte.

Blickdicht

Er schwärmte genau so lang für eine offene Architektur, für lichte Räume und bodentiefe Fenster, bis er spürte, dass besser zu sehen meist bedeutet, besser gesehen zu werden. Was in der Blickrichtung nur eine Frage des Standorts ist, ob von innen nach außen geschaut wird oder von außen das Innen beobachtet, empfindet das Ich als absoluten Unterschied zwischen Weite und Scham, Freiheit oder Beklemmung.

Das Bällebad für Erwachsene

„Wellness“ ist der Name, mit dessen Hilfe dem Menschen seine eigene Degeneration schmackhaft gemacht werden soll.

Denkfaulheit

Nicht selten ist Denkfaulheit das spiegelverkehrte Kennzeichen eines wachen Geistes. Aus der Erfahrung, dass es ihm stets reichte, wenn seine Einfälle noch ein wenig länger herumlagen, als es bei anderen die Gewohnheit war, hat er Anstrengungsfreiheit zur intellektuellen Kunst entwickelt. Schlimmer noch, wenn die blasierte Müdigkeit im Kopf das Ergebnis häufiger Enttäuschung darüber ist, dass einer mit seinen Ideen meist zu früh gekommen war.

Die ganz normale Härte

Noch einmal „Zu schön, um wahr zu sein“: Realität erschließt sich weniger ästhetisch als moralisch. Sie ist, was zur Stellungnahme im Handeln zwingt und die bloße Beobachtung nicht mehr zulässt. Wahrheit gilt dabei als anderer Name für eine widerständige Wirklichkeit. In ihr ist Mut das Kriterium, an dem sie sich messen lässt, nicht Anmut. 

Fliegende Fetzen

In jedem Streit verbirgt sich diskret, dass die Erkenntnis von Wahrheit einen einzelnen Menschen überfordert. – Das Parlament ist der Ort, an dem aus dieser Verlegenheit eine politische Tugend werden soll.

Passt schon

Die figurbetonenden Linien der Jacke verraten weniger das Modebewusstein ihres Trägers als dessen unerschütterlichen Optimismus, es würde sich der Körper den strengen Formen des eng geschnittenen Kleidungsstücks schon irgendwann anpassen.

Blendwerk

Hinter der saloppen Redewendung „zu schön, um wahr zu sein“ steht der uneingestandene Verdacht, es könne sich bei den ästhetischen Attraktionen dieser Welt nur um einen großangelegten Ablenkungsversuch handeln: Verführt von den ansprechendsten Oberflächen versäumen wir es, Wahrheit auf den Grund zu gehen und das Gute wider den Vorwurf der Langeweile zu verteidigen.

Serienproduktion

Wie eine Beziehung entbrennt: jede Begegnung ist so spannungsreich, dass sie eine Verheißung enthält auf das nächste Mal.
Wie eine Beziehung entsteht: in der Begegnung formuliert sich ein Versprechen, dass eine Fortsetzung folgen werde.
Wie eine Beziehung sich etabliert: in der Begegnung reift das Vertrauen auf dauerhafte Wiederholungen.
Wie eine Beziehung entkernt wird: in der Begegnung sorgt Vergeblichkeit dafür, dass sich die Hoffnung auf Erfüllung in die Angst vor der Leere verwandelt.
Wie eine Beziehung endet: aus der Begegnung fällt alles, was ein Verständnis will und eine Verständigung möglich macht.

Fanclub

Die billige Ausgabe dessen, was bei wenigen die Aura darstellt, die sie umhüllt, ist die Gefolgschaft, mit der sie sich umgeben. Menschen, die wirklich eine magische Ausstrahlung besitzen, werden zwar bewundert. Aber niemand käme ernsthaft auf den Gedanken, ihnen nachlaufen zu wollen.

Hilf dir selbst!

Das Subsidiaritätsprinzip, die Hilfe zur Selbsthilfe, ist als Korrektiv gesetzt wider die größte Versuchung der Sorge: Sie entdeckt, dass im Kümmern und Beistand, in der Betreuung und der Assistenz ein Machtgefälle liegt, das die eigene Größe ableitet aus der Not des anderen. So dient der Verzicht auf ungebotene Dauerhilfe dem Gleichheitsgrundsatz und ist eine Erinnerung daran, dass sich legitime Macht nie aus der Ohnmacht des anderen ableiten kann. Wenn immer mal wieder von Politikern der „starke Staat“ als segensreiche Institution angerufen wird, so bleibt verschwiegen, dass er sich unausgedrückt anmaßt, den Bürger zur Schwachstelle in einer Gesellschaft zu erklären. Ein „starker Staat“ in einer Demokratie ist schwach in dem Maße, wie er den Souverän klein hält.

Doppelkopf

Irgendwo zwischen der Vertrauensperson und dem guten Bekannten ist die Zwitterbeziehung zu einem Geschäftsfreund angesiedelt. Er, der zwei Gesichter hat, das kühle eines nüchternen Kalküls und das zugewandte eines tiefen Verständnisses, darf die Professionalität seiner Rolle nie verlassen, wenn er sich als Person nicht in Gefahr begeben will. Die Freundschaftserweise muss er stets sachlich einordnen können; das business sollte er emotional einzufärben wissen. Das Leitmotiv seines Handelns kann sich nur subsidiär verstehen: Alles, was objektiv zu regeln ist, so zu halten, damit das subjektive Empfinden sich und die Sache nicht überfordert. Am Ende stellt er die Transaktion vor die Beziehung, weil er weiß, dass am Anfang jede Transaktion in dem Maße gelingt, wie sie von der Frage nach einer Beziehung nicht behelligt wird. 

Nichts als die Unwahrheit

Die kleinen Schummeleien sind nicht selten Indizien für eine große Lebenslüge. An ihren Früchtchen werdet ihr sie erkennen.

Selbstjustiz

Selbstgerechtigkeit ist die sicherste Weise, einsam zu werden. Nur wenig ist unerträglicher als ein Mensch, der seinen eigenen Ansprüchen so verzweifelt und vergeblich hinterherläuft, dass er, weil er an ihnen zwangsläufig scheitert, sich von allem Urteil unabhängig macht, indem er den Freispruch über sich schon längst formuliert hat. Doch nicht die Absolution strebt der Selbstgerechte an, sondern seine Verabsolutierung als einer Instanz, der über sich das letzte Wort gebührt.

Misstrauensantrag

Eine Vertrauenskrise spitzt sich zu, wenn sich die Frage nach der Glaubwürdigkeit stellt, ohne dass Inhalte noch eine Rolle spielen müssen, ja mit ihrer Hilfe das Vertrauen gar wiedergewonnen werden könnte. Politische Wahlentscheidungen spiegeln diesen Zustand, indem sich Mehrheiten bilden durch ein Votum, das sich über das Misstrauen gegen andere definiert und kaum noch durch das Zutrauen in Gestaltungskräfte. Der generelle Zweifel gegenüber Politikern stellt die Antwort dar auf Mächtige, denen der Realitätssinn weitgehend abhanden gekommen ist.

Tiefgründig

Wie Pflanzen sich unterscheiden lassen in Flachwurzler und Pfahlwurzler, so auch die Argumente in schwache und starke. Nur dass die besonders guten Gründe eher den Gedanken beigesellt sind, die nicht von sich aus überzeugen, um sie zu stützen. Oft verkennt der kritische Geist, dass nicht alles, was ohne Beleg bleibt, schon deswegen auch grundlos ist. Vielleicht zeichnen sich gerade die besten Ideen dadurch aus, dass sie keiner Rechtfertigung bedürfen.

Schön lebendig

Zu den Geheimnissen des ungelebten Lebens gehört nicht nur, dass es lebendiger ist, als es seine Bezeichnung glauben macht. Sondern vor allem, dass es nicht in dem Maße verschwindet, wie man versucht, es zu leben.

Belebt, gelebt, verlebt

Die schönste Form, von einem Problem befreit zu werden, ist nicht dessen Lösung. Sondern dass die Frage, die sich mit ihm verbunden hat, sich mit der Zeit weggelebt hat. „Die Lösung des Problems des Lebens merkt man am Verschwinden dieses Problems.“*

* Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus 6.521

Schadstoffe

Vielleicht reicht es aus, Kultur zu definieren als Anstrengung, der Langeweile zu schaden.

Der Glanz des Schillernden

Koketterie ist die eindeutige Andeutung von Zweideutigkeit. Oder die zweideutige Anspielung auf das Eindeutige.

Bist du mir böse?

„Böse“ ist im Denken oft gut. Und dort allemal besser aufgehoben als im Handeln.

Grobian

Meist ist es ein vergebliches Unterfangen, die Groben durch Feinheit zu beschämen. So wie das laut Dröhnende nicht dadurch verschwindet, dass man sich ihm still entgegenstellt.

Fragiles Gleichgewicht

Der letzte Stand der Dinge ist immer der Zustand, nach dem eine Sache gekippt wird.