Monat: Januar 2018

Fass dich kurz

Das Leben in drei knappen Sätzen:
1. „Kein Stress.“ (meist ermunternder Appendix zur Bitte, die eine Sache zu erledigen einfordert);
2. „Kein Problem.“ (oft die Standard-Erwiderung auf einen Dank);
3. „Alles gut.“ (in der Regel abwehrende Floskel nach der besorgten Frage, wie es gehe).

Die feinen Unterschiede

Wie ein Statussymbol funktioniert: Es erklärt die Unterschiede zwischen Menschen für selbstverständlich, indem es die Dinge, auf denen sie beruhen sollen – mein Haus, mein Auto, mein Boot –, für nicht selbstverständlich erklärt.

Theoretisch betrachtet

Aus der Serie „Geflügelte Worte, die die Bodenhaftung verloren haben“

Ist es nur Chaos, hat es doch eine Theorie.*

* Nach dem Vorbild „Ist es schon Tollheit, hat es doch Methode.“ (Shakespeare, Hamlet, 2. Akt, 2. Szene)

Sorry!

Die gewöhnlich reflexive Wendung „Ich entschuldige mich“ ist eine verräterische Ungenauigkeit im Gebrauch der Abbitte. Sie unterschlägt, dass Verzeihung ausschließlich ein Gestus sein kann, der gewährt wird und von dessen freiwilliger Zusprache derjenige abhängig ist, der gefehlt hat. Heute entschuldigt jeder – sich: die Bahn bei Verspätung, der Verkäufer für die schlechte Qualität der Ware, der Student, wenn er die Lehrveranstaltung geschwänzt hat, der Gastgeber wegen der misslungenen Vorspeise, der Lebenspartner nach einer Affäre. Niemals vermag im Fall einer Entschuldigung das schlichte Wort der Selbstkorrektur wieder gutzumachen, was zuvor gehörig schiefgelaufen ist. Gleichwie Schuld ein Verhältnis zu anderen bezeichnet, ist auch die Entschuldigung nur als Antwort verständlich, die ein anderer auf eine Bitte bestenfalls gibt.

Frühwarnsystem

Die Sprache ist ein Frühwarnsystem, das in dem Maße verlässlich anschlägt, wie sie aus einem überreichen Wortschatz sich bedienen kann und ihre Beschreibungsqualität ausreicht anzuzeigen, was noch auf sich warten lässt. Wären unsere Ahnungen alle artikulationsfähig, wir könnten uns im Leben eine Menge Ärger ersparen. Doch wie oft bleibt es bei einem stummen, gleichwohl sicheren Vorgefühl. Ob der Freund zum Lebenspartner taugt? Ob eine angefangene Arbeit nicht schon im Ansatz zum Scheitern verurteilt ist? Ob die Geschäftspläne erfolgreich sein werden? Ob eine Mannschaftsaufstellung zum Sieg gereicht? Die eigene Empfindsamkeit will darüber rechtzeitig, ja in einem Frühstadium schon zureichend gewiss Auskunft geben; nur die Sprache vermag dieser inneren Stimme nicht durch eine äußere zu entsprechen. Sie hat keine Begriffe, stottert, tappt durch die Gedankenwelt wie einer, der sich im Finsteren vortastet. Und selbst wenn sie dann zum Wort gefunden hat, reicht oft nicht aus, was sie sagt, um sich selbst oder andere zu überzeugen. Nicht selten meldet sie sich erst, wenn das Misslingen allzu augenscheinlich geworden ist, wenn die Niederlage unabwendbar geworden ist, das Scheitern nicht mehr aufgehalten werden kann, wenn Belege vorhanden sind und Beweise zu führen fast müßig geworden ist – zu spät. Sich im Reden zu üben, um sich im Denken zu orientieren, dient nicht zuletzt der vorgezogenen Vermeidung von Lebensunbill. Alles, was sich so präzise bezeichnen lässt, dass es anschaulich wird, ohne dass es schon eingetreten sein muss, lässt sich im vorhinein bestens bestimmen. Als Frühwarnsystem funktioniert die Sprache, weil sie über Vorstellungs- und Urteilskraft verfügt.

Subjekt, Objekt

Du musst keine Romane geschrieben haben, um ein guter Literaturkritiker zu sein; du musst kein Fußballprofi gewesen sein, um einen exzellenten Trainer abzugeben; du musst kein Handwerk gelernt haben, um schöne Architektur zu schaffen; du musst kein Publikum mitreißen können, um alles von der Redekunst zu wissen. Aber du solltest selber glauben, wenn du ein gewinnender Priester oder vertrauenswürdiger Pastor sein willst.

Der ganze große Rest

Wenn es stimmt, dass wir nur zwanzig Prozent unserer Lebensmöglichkeiten ausschöpfen – was ist mit dem Rest? Wenn es richtig ist, dass nur fünf Prozent unserer Gehirnkapazität gebraucht wird – was geschieht mit den brachliegenden Nervenzellen im Denkorgan? Welchen Status hat das, was offenkundig keine Rolle zu spielen scheint? Sind das nur Möglichkeiten? Eine Wirklichkeit eigener Qualität? Vielleicht ist ja das Ungenutzte nützlich, weil nur so das Genutzte auch von Nutzen sein kann. Die Fragen ließen sich umkehren: Was wären die Lebenschancen, die wir in Anspruch genommen haben, ohne jenes größere Feld des ungelebten Lebens? Gerade dann, wenn wir unseren unerfüllten Sehnsüchten realiter begegnen, wächst die Ahnung, wie wichtig es sein kann, dass ungehobene Schätze der eigenen Existenz im Verborgenen bleiben, damit das, was ist, sich entfalten kann. Die Wirtschaft spricht von einer Achtzig-zwanzig-Verteilung, vom Pareto-Prinzip, das sie allerorten entdeckt. Das kleinere Prozent schafft Wert; das übrige ist wertlos. Stimmt das? Es spricht viel dafür, dass die achtzig Prozent Durchschnitt oder Ausschuss entscheidend sind für die zwanzig Prozent, die hohe Qualität liefern. Man kann nicht ohne Folgen weglassen, was auf den ersten Blick verzichtbar zu sein scheint.

Wie klug du bist

Der Unterschied zwischen klug und lebensklug gleicht nicht der Differenz zwischen Theorie und Praxis oder der zwischen Wissen und Weisheit. Beide gründen auf Erfahrungen, nur dass die Lebensklugheit Erfahrungen mit der Erfahrung gemacht und deren Grenzen kennengelernt hat.

Vorsicht Rutschgefahr!

Der glatte Lebenslauf, von vielen Unternehmen geschätzt, ist ein Ingenieursideal. Unter technischen Voraussetzungen gilt es, Reibungsverluste zu vermeiden, die Spaltmaße schmal zu halten, Passteile fugendicht einzuarbeiten. Brüche, Unregelmäßigkeiten oder gar mit Bedacht gesetzte Abweichungen gelten als Störfaktoren. Auf eine Biographie übertragen, die sich anschickt, Karriere zu machen, sind es die ungeplanten Umwege, die Lücken und Abstiege, welche irritieren. Dabei ist wenig aufregender als ein Leben, das nicht glatt verläuft, das sich Widersprüche leistet und Widerstand bietet. Doch das ist ein Künstlerideal.

Generationswechsel

Nichts beeinflusst das Gelingen eines Generationswechsels so stark wie die Frage, wer ihn einleitet. Viel hängt davon ab, ob die Älteren es als Lebensperspektive verstehen, dass sie Platz machen. Und ob die Nachfolger einsehen, dass fast jeder Übergang mit der Kränkung einhergeht, noch nicht fertig zu sein. Die verborgene Ungerechtigkeit, die in einem Generationswechsel steckt, wird am deutlichsten sichtbar, wenn die Töchter und Söhne – gar nicht selten – zugunsten der Enkel übersprungen werden.

Nachspielzeit

Nicht selten fallen die entscheidenden Tore, wenn das Fußballspiel längst hätte abgepfiffen sein können. So auch im Leben: Es lohnt sich auszuhalten. Wer zu früh entnervt ist, versäumt oft das Schönste.

Reizüberflutung

Die langweiligste Lüge der Medienwelt ist der inszenierte Tabubruch.

Jetzt mach mal einen Punkt

Jeder Satz nimmt sich das Vorrecht heraus, einseitig zu sein. Der Punkt, die grammatikalische Form des Willkürakts, drückt den Schmerz aus, nicht alles sagen zu dürfen, um etwas Bestimmtes sagen zu können.

Lebensführung

Das einzige Lebewesen, das sein Leben führen muss und nicht nur lebt, ist der Mensch. Nur dass er die Lizenz, es zu führen, nicht bekommt, bevor er es führen darf, sondern nur erwerben kann, indem er es führt. Das geht nicht unfallfrei, aber muss ohne Versicherung auskommen.

Sorge dich nicht

Einer der Grundantriebe menschlicher Existenz, die Sorge, bedeutet: das Leben eines anderen vorwegnehmen. Das macht es schwer, sich in der Gegenwart Sorgender frei zu entfalten. Um des Preises willen, sich von der eigenen Gegenwart zu lösen, sucht Sorge die zwanghafte Nähe zu einer Zukunft, die dadurch ihren Charakter des noch Unbestimmten verliert.

Dämonenkult

In der künstlichen Intelligenz schafft sich der Mensch seine Dämonen als reales Gegenüber. An ihr erlebt er, dass seine größten Leistungen zugleich der erste Anlass sind, über sich bis ins Mark zu erschrecken. Diese Art Maschinen wird, einmal selbständig geworden, sich von ihm nicht mehr zähmen lassen und ihm täglich das Gefühl geben, wie überflüssig er auf dieser Welt ist. Wenn Freud von den drei Demütigungen des Menschen schreibt – Kopernikus (die Erde ist nicht der Mittelpunkt im Sonnensystem), Darwin (der Mensch ist nicht die Krone der Schöpfung) und ihm, dem Begründer der Psychoanalyse (das Ich ist nicht der Herr im eigenen Haus) – so ist das die vierte, die entscheidende (dort, wo unsere eigene Entwicklung gipfelt, wendet sie sich gegen uns).

Verquerdenker

Ein Charakterbild
Ohnehin hat er das Denken neu erfunden. Der Verquerdenker hält sich nicht an vieltausendjährige Regeln der Logik. Die Zeiten haben sich geändert, und mit ihnen alles, was bisher galt, auch in den Köpfen. Als Vordenker tritt er gern auf, für einen Freidenker hält er sich, fürs Querdenken wird er engagiert. Nur denken, das reicht nicht mehr. Die Zeiten haben sich ja radikal … aber das hat er schon gesagt. Kausalität? Vergessen Sie es. Linearität? Zu schlicht. „Ein Jüngling liebt ein Mädchen …“ Zu naiv. Die Sache ist doch unordentlich verflochten: „ … Die hat einen Andern erwählt. Der Andre liebt eine Andre und hat sich mit dieser vermählt …“ Komplexität! Das ist es. Heine hat es gewusst. Wenn der Verquerdenker Gründe liefern soll, rechtfertigt er sich. Was er für eine Argumentation hält, ist bloß eine Assoziation. Komplexität, sein Leib- und Magenwort, die Lieblingsspeise seines Redens, hält er für eine Art Freibrief, munter drauflos zu faseln. Da gerät vieles durcheinander. Anfang und Ende, Ursache und Wirkung, Grund und Folge, Punkt und Komma, analog und digital (noch so ein Herzensthema des Verquerdenkers), vor allem: und, und, und. Das „Und“ ersetzt ihm alle differenzierten Formen der Verknüpfung; es fügt sich über das „Und“ so hübsch eines mit dem anderen. Zuletzt  hat es sich so tief eingenistet im Denken des Zuhörers, dass er sich achselzuckend abwendet, nicht einmal im Gefühl, etwas Untunliches getan zu haben: Na, und …

Keine Rücksicht auf Verluste

Es gibt eine Aufrichtigkeit, die sich um ihre Sozialverträglichkeit in dem Maße nicht schert, wie sie sich selbst absolut setzt. Die Überzeugung, nicht gut lügen zu können, wirkt wie eine Einladung, in schönster Unbekümmertheit rücksichtslos zu sein. Im Ideal der Wahrhaftigkeit steckt gar nicht so selten eine gehörige Portion Egomanie.

Leutseligkeit

Man kann die Phasen einer Legislaturperiode genau unterscheiden am Gebrauch der Phrase „die Leute wollen das“. Schon immer hatte „Leute“ weniger die Bedeutung „Volk“, sondern meinte vor allem das gemeine Volk – das Volk, das seinem Herrscher zur Gefolgschaft verpflichtet war. Wenn erzielte Kompromisse mit künftigen Koalitionspartnern begründet werden durch die Annahme, „die Leute im Land“ forderten eine Sache, versteckt sich hinter der Berufung auf den allgemeinen Bürgerwunsch, die im Gestus demokratischer Verantwortung vorgetragen wird, unverhohlen ein umgekehrtes Machtgefälle: „Leute“ sind kaum die, deren Interessen man verfolgt, sondern eher eine Formel, mit der sich die eigenen Interessen bestens rechtfertigen lassen. Die Instrumentalisierung des Volks für parteipolitische Zwecke verrät sich im verächtlichen und spaltenden Beiklang, den das Wort „Leute“ hat: wir hier oben, ihr da unten. Wie anders kann es sein, dass es dann im Wahlkampf zugunsten der Leutseligkeit für Monate aus der politischen Rhetorik verschwindet.

Von der Schwierigkeit, eine Sache von innen zu begrenzen

Die Aufgabe, die das Maß in der Moral übernimmt, ein Handeln von innen her zu begrenzen und es nicht übermäßig, unmäßig, ja maßlos werden zu lassen, vollführt in der Logik der Sprache die Bedeutung: Sie gibt einem Wort seinen bestimmten Sinn und unterscheidet es so, indem es diesen beschränkt, von allen möglichen anderen Inhalten.

Einsamkeit

Nichts an der Einsamkeit ist per se sozialpathologisch. Das gilt, in dieser spezifischen Form, auch für jene, die nicht selbstgewählt ist. Einsamkeit, die mit dem Rückzug aus Gesprächen kaum identisch ist, ist eine Kommunikation. Was aber will sie sagen? Vielleicht zunächst wenig anderes, als dass ein Mensch die Exklusivität einer Beziehung aus dem Interessensspiel von Nähe und Distanz, aus seinem Geflecht an Freundschaften, den vielgestaltigen Zuneigungen, den Verwandtschaftsverstrickungen heraushält. Keines dieser Verhältnisse wird im Ernst hervorgehoben und sticht heraus. Außer das eine, das er vor seiner Mitwelt verbirgt. Im Grunde ist Einsamkeit die konsequente Treue zu sich selbst. Was auch bedeutet: Sie ist kein Schicksal.

Subversivkräfte

Unter allen subversiven Kräften wie der Sabotage oder der Subkultur wirkt die Liebe am stärksten. Sie kümmert sich nicht um Konventionen, ist weder interessiert an Machtverhältnissen noch anderen Formen sozialer Hierarchien. Sie unterläuft Erwartungen, ignoriert Erfahrungen, überbietet Erinnerungen. Wer liebt, ist ein Anarchist.

Talentschuppen

Das Problem der Talentshows ist, dass sie sich um die vielen Begabungen nicht kümmern, solange die Aussicht lockt, den einen Begnadeten zu finden. Dabei ist die große Aufgabe der Förderung, der Erziehung im besten Sinn, das Vielversprechende zu ermutigen, und nicht nur das, was schon viel erfüllt.

Gerechtigkeitslücke

Die größten Ungerechtigkeiten geschehen im Namen der Gerechtigkeit. Und nicht selten in bester Absicht.