Monat: April 2018

Bewusstlos

Nichts ist so schön wie Bewusstlosigkeit. Man kann sich erfreuen und genießen, ohne gleich begreifen zu müssen, was es denn sei: die Musik, die so fremd klingt, wie sie feinfühlend mit den Instrumenten spielt; die Liebe, die so unerwartet wie überwältigend kommt; das Buch, das so dramatisch erzählt, wie es dunkel bleibt. Alles Verstehen würde nur den Zauber zerstören.

Groß und klein

Es gibt einen Plural, der einer Sache nichts hinzufügt und sie nicht vervielfältigt, sondern sie verniedlicht. Wenn jemand bei einer Reihe von Dummheiten erwischt wird, war er gewiss töricht; ein Mensch, der bei seiner Dummheit ertappt wird, ist indes einfach nur ignorant.

Ich, Du, Wir

Wir Ichs: das mag als Kurzformel durchgehen für eine Gesellschaft, in der das einsame Ego ins Zentrum des selbstverständlichen Selbstverständnisses gerückt ist. Wer, trotz Teamarbeit und regelmäßigen Kollegenurteils in Feedback-Schleifen, seinen Blick allzu aufmerksam auf den anderen richtet, handelt karrierefahrlässig. Da gilt vielmehr, dass gelegentliche Rücksichtslosigkeit nicht nur zum guten Ton gehört, sondern eine Bedingung des Erfolgs darstellt. Der Narzisst verwechselt die Hierarchie der Grammatik mit Grundprinzipien des Handelns: Nur weil die erste Person singular ganz oben rangiert in der Konjugationsreihe, steht Ich nicht an erster Stelle. Eine Grammatik des Respekts, ja der Liebe beginnt mit dem Du und hangelt sich über das Wir zum Ich.

Spielarten der Freiheit

Ein altes Gesetz des Denkens verknüpft den Inhalt eines Begriffs mit dessen Umfang durch umgekehrte Proportionalität. Je geringer die Menge ist, die er umfasst, desto genauer lässt sich bestimmen, was er bedeutet. Zur Kategorie eines Taschenbuchkriminalromans gehören signifikant weniger Exemplare als zu dem, was alles „Buch“ genannt wird, aber die Einbildungskraft wird über das Wort präziser geleitet. Wie ist das mit einem, nicht nur politisch höchst wirksamen Begriff wie Freiheit? Dem, der ihn mit Verantwortung übersetzt, fällt schwer zu akzeptieren, dass zu ihren Spielarten auch die Unverbindlichkeit und Wurstigkeit gehören. Freiheit grenzt an Willkür und Pflicht gleichermaßen. Lässt sie sich also kaum definieren? Gar nicht, ist man sogar geneigt zu sagen. Aber das hat nicht mit ihrem großen Bedeutungsumfang zu tun, sondern mit ihrem Inhalt: Freiheit ist eine Aufgabe, kein Zustand. Was sie ist, zeigt sich nur in der Art, wie von ihr Gebrauch gemacht wird. Es gibt sie nicht anders als in der Handlung, die sich auf sie beruft. Ihren Inhalt gewinnt sie über den Umfang eines Tuns, das sich nicht anders auslegen will als durch den Anspruch, frei zu sein. Vielleicht ist Freiheit so ein Synonym für das, was im besten Sinn „menschlich“ heißt, ohne dass damit schon etwas moralisch qualifiziert wäre.

Maulhelden der Arbeit

Was den Vorgesetzten von seinen Kollegen unterscheidet: Er löst die Kontroversen, indem er sich von ihnen löst. Sollen die anderen doch aushalten, was er für lästig erklärt hat. Wenn wirklich einmal ein ernstes Wort zu sprechen ist, um einen Streit zu schlichten oder den Mitarbeiter zur Ordnung zu rufen, zeigt sich der Chef oft als Heroe der Ankündigung. Doch der Maulheld der Arbeit endet nicht selten konfliktscheu als Schlappschwanz in der Ausführung.

Symbolhandlungen

Solange nur die Formfragen aufs Akkurateste erledigt sind, braucht man sich um Inhalte nicht zu mühen. So das Vorurteil. Was kümmert es den Studenten, der eine Teilnahmebescheinigung erhalten hat für sein regelmäßiges Erscheinen in der Lehrveranstaltung, ob er auch beteiligt gewesen ist an dem, was verhandelt wurde. Was juckt es den Banker, der die Regeln beachtet, wenn er seinem Kunden so schadet. Was schert es den Politiker, der in die Amtsstuben ein Kreuz hängen lässt, dass es einst als Skandal, als Ärgernis und Torheit angesehen wurde, weil die mit dem Zeichen verbundene Botschaft das Leben heilsam (ver-)stört. Die Entkoppelung der Form von der Sache unterschlägt, dass die Form die Sache ist, auch wenn die Sache in der Form nicht aufgeht. Man nennt das: Symbol.

Frei von Vorsätzen

Beim Gedanken an ein letztes Gericht, das über das Leben abgehalten wird, um es endgültig zu bewerten, erschrak er. Wie würde sein Bemühen, sich aus allem herauszuhalten, für nichts Verantwortung übernehmen zu wollen, sich nicht festzulegen und Entscheidungen auszuweichen, wie würde diese notorische Unverbindlichkeit am Ende aussehen? Er brauchte nicht lang, um einzusehen, dass er auf mildernde Umstände nicht hoffen durfte. Ein Leben lässt sich nur dann fahrlässig führen, wenn das mit Vorsatz geschieht.

Selbstbezug

Viele Wissenschaftler schreiben nur noch, um zitiert zu werden; und sie zitieren, um überhaupt etwas zu schreiben zu haben.

Die Erfindung des Neids

Der Neid ist ein Meister des Fadenscheinigen. Was er an Gründen nicht vorbringen kann, die Leistungen eines anderen zu schmälern, schafft er, indem er sich selber zur willkürlichen Instanz von Recht und Unrecht, Akzeptanz und Ablehnung macht. Er ist Chefkritiker von Berufswegen oder Herausgeber eines Essaybands, Betriebsratsvorsitzender oder Vorzimmerdame – alles Positionen, die nur geringe Gestaltungskräfte erfordern, aber maßgeblich entscheiden über das, was klein bleiben muss und groß werden darf. Indem er den anderen zwingt, sich zu rechtfertigen, immunisiert er sein eigenes Urteil, das seine Armseligkeit, kaum einen Grund zu haben, hinter der Fassade formaler Pflicht verbirgt.

Was fürs Auge

Die oft angestrengte Intimität, die sich in beengten Hotelzimmern für das reisende Paar einstellt, wird noch gesteigert durch die inzwischen obligatorisch offene Anordnung des Bads. Keine Dusche mehr, in die vom Bett aus nicht hineingeblickt werden kann; kaum ein Toilettenraum, der noch eigens abgetrennt oder gar abschließbar ist. Der Partner wird zum erzwungenen Zeugen der abendlichen Reinigungsprozedur seines Gegenübers und entdeckt Handgriffe, die er so genau nicht kennenlernen wollte. Ob die neuen Hotelarchitekten je ahnen, dass Erotik nichts weniger verträgt, als zu Nähe genötigt zu werden? Wenn es ihnen darauf angekommen sein sollte: Lust entsteht, wo um die Inszenierung des Eigenen ein Geheimnis gemacht werden kann.

Die Illusion einer Zukunft

Die Illusion der Generationengerechtigkeit: eine Zukunft, die sich nicht in dem Maße verbraucht, wie andere an ihr teilhaben. Ihr Fehlschluss ist die Vorstellung, dass das, was unbestimmt ist, auch unbegrenzt zur Verfügung steht.

Sei ehrlich

Die ehrlichste unter allen anthropologischen Bestimmungen: Der Mensch ist das einzige Lebewesen, das sich mit sich selbst überfordert.

Wo Denken aufhört

Das Lachen bewahrt das Denken vor seiner eigenen Abgründigkeit.

Pazifismus als Geschäftsmodell

Es gehört zum modernen Pazifismus, sofern er nicht nur eine moralische Gesinnung darstellt, sondern sich politisch einmischt, dass er zwischen zwei wachstumsstarken Branchen bestens gedeiht: Er leistet sich eine hochinnovative Rüstungsindustrie, um an den Kriegen der anderen diskret zu verdienen, und eine hocherregbare Entrüstungsindustrie, um in diese Kriege nicht versehentlich hineingezogen zu werden. So dient der Pazifismus zugleich als Geschäftsmodell, dessen Friedensangebote sich großer Nachfrage erfreuen.

Doppelter Boden

Das vielleicht wichtigste Merkmal eines Lebensstils ist seine Eigenschaft, soziale Gewissheit zu vermitteln. Da mag einer sich schrill inszenieren, bunt, laut und kratzbürstig daherkommen, sich um Konventionen nicht scheren – nicht das macht den Unterschied zu den „grauen Mäusen“. Sondern ob seine Sprunghaftigkeit verlässliche Beziehungen erlaubt. Unberechenbarkeit ist nicht das, was eine Lebensart weniger trist und langweilig erscheinen lässt.

Allerweltphänomen Kommunikation

Im Maße, wie Textnachrichten und Mails die elektronischen Eingänge fluten, zeichnet sich eine Gegenbewegung ab: Sobald einer Bitte nachgekommen, eine Aufforderung erfüllt, die fehlende Information geliefert wurde, bricht der Austausch ab. Der Adressat fühlt sich nicht bemüßigt, den Erhalt der Antwort zu bestätigen. Bei einer Absage kommt kein Signal des Bedauerns. Im Fall einer Pflichterfüllung fehlt der obligatorische Dank. Der Dialog hat sich seinem Medium anverwandelt: Er ist maschinell geworden. Hier der Reiz, da die Reaktion; hier das Bedürfnis, da die Befriedigung; hier das Problem, da die Lösung. Für alles, was sonst noch denkbar wäre, ist kein Platz. Im Zeitalter totaler Kommunikation leidet vor allem eines: die Kommunikation. Und es wächst der Überdruss an ihr.

Bedürftigkeit

Der Gesunde ist genauso bedürftig wie der kranke Mensch, nur dass er diese Bedürftigkeit ganz und gar verstecken kann.

Blickwinkel

Wirklich neu ist nur das, was unsere Perspektiven zu verschieben in der Lage ist.

Fragt sich nur: Wozu?

Was nutzlos ist, kann beides sein: unnütz und mehr als nützlich.

Die Welt von morgen

Kaum eine Zäsur wie der Antritt eines neuen Konzernlenkers, die nicht begleitet ist von der Mahnung, sich auf dem Erreichten trotz allen Stolzes, an den pflichtschuldig erinnert wird, nicht auszuruhen. Den Blick gelte es, fortan nach vorn zu richten. Nur was gibt es da zu sehen? Alles, was wir ins Auge fassen können, stammt aus der Vergangenheit und ist Gegenwart. Es lohnt allenfalls, in einer inneren Schau sich vorzustellen, wie die Zukunft aussehen könnte. Da aber hilft, sich mit dem äußeren Sinn von ihr wegzuwenden, auf dass genauer erfasst wird, was sich dem Bewusstsein, der Einbildungskraft, der schöpferischen Phantasie zeigt. Wenn er Neues sucht, geht der Mensch der Welt von morgen am besten rückwärts entgegen.

Geschmacksgrenzen

Der Geschmack ist nicht nur eine untrügliche Instanz für das eigene Qualitätsempfinden. Er sorgt zugleich für das Maß an Quantität, das dem Menschen zuträglich ist. Da mag eine Melodie noch so schön sein – bei der wievielten Wiederholung kann man sie nicht mehr hören? Die Lieblingsspeise, täglich genossen, wird irgendwann zur Magenqual. Das Gemälde, einst erworben im Überschwang ästhetischer Begeisterung, sorgt nach Jahren der prominenten Hängung im Raum für Überdruss. Wo nur der Geschmack leitend ist, dort vergeht die Attraktion mit der Zeit. Es müsste sich schon Liebe einfinden, die diese Grenze aufbricht.

Technischer Fortschritt

Mit dem Fahrzeug, das über künstliche Intelligenz durchs Verkehrschaos gelenkt wird, ist die Technik endlich zu sich selbst gekommen: Sie ist nichts als Selbstbewegung – Automobilität – und Selbstgesetzgebung, Autonomie. Der Mensch erfindet die Maschine und lässt sich dann von ihr ersetzen.

Nichts zu verbergen

Das, was sichtbar ist, entstand einst aus dem, was verborgen bleibt und erhält seine Bedeutsamkeit in dem Maße, wie es die Erinnerung bewahrt, nicht alles zeigen zu können. Jedes Wort von Gewicht stammt aus dem Schweigen und kehrt, ausgesprochen, in es zurück. Jede Geste, die andere Menschen berührt, lässt eine Haltung entdecken, die sich nie ganz ausspricht, vollständig erklärt. Wer nichts zu verbergen hat, hat auch nichts zu sagen. Der Architekt Peter Zumthor entdeckt den Sinn des Geheimnisses in der Anmutung eines Raums: „Ich finde es wunderschön, ein Gebäude zu bauen und dieses Gebäude aus der Stille heraus zu denken.“*

* Atmosphären. Architektonische Umgebungen. Die Dinge um mich herum, 31

Anatomie des Alkohols

Ganz unterschiedlich sind die anatomischen Wirkungen des Alkohols. Das Bier, um mit dem Getränk zu beginnen, von dem Nietzsche meinte, es sei zu viel davon in der deutschen Intelligenz, sehr zu deren Schaden*, steigt dennoch weniger in den Kopf, als dass es in den Bauch absackt und dort die typische Trägheit hervorruft, die nach seinem Genuss zuverlässig einsetzt. Hell und klar hingegen, zumindest fürs erste, macht der Weißwein den Geist, der von Glas zu Glas ein höchst anregendes Gespräch fördert. Und der Rotwein, das Winterelixier? Er beseelt den Menschen im ganzen, wärmt das Gemüt und lässt die Gedanken tief bis in dessen Abgründen schauen. Er ist der einzige Saft, von dem sich mit Recht sagen lässt, dass er weinselig mache.

* „Wie viel verdrießliche Schwere, Lahmheit, Feuchtigkeit, Schlafrock, wie viel Bier ist in der deutschen Intelligenz! Wie ist es eigentlich möglich, daß junge Männer, die den geistigsten Zielen ihr Dasein weihn, nicht den ersten Instinkt der Geistigkeit, den Selbsterhaltungs-Instinkt des Geistes in sich fühlen – und Bier trinken?“ – Götzen-Dämmerung, Kap.: Was den Deutschen abgeht, 2