Monat: Juni 2018

Menschenleer

Die Eigenschaft „menschenleer“ wird in Metropolen immer mehr zum Luxusgut. Der eigene Garten erinnert daran, dass es einst die Sehnsucht nach dieser störungsfreien Qualität war, die ihn zum immobiliaren must have hat werden lassen. Und die lieben Nachbarn sorgen durch ihre sommerliche Dauerpräsenz auf den angrenzenden Grundstücken dafür, dass das Bedürfnis, unbeobachtet zu bleiben im eigenen Kokon und unbeschallt, in dem Maße wächst, wie es von ihnen unwillkürlich als romantisch entlarvt wird. So unheimlich das Menschenleere auf Plätzen ist, so heimelig wirkt es in den Lichtungen des privaten Alltags.

Einmal kurz, einmal lang

Auch die Langweile kann kurzweilig sein …
… im Gespräch mit der „Wirtschaftswoche

Der neue Name Gottes

„Können Sie übersetzen, was ‚Gott‘ bedeutet“?
„Der eine für alle ein für allemal.“

Nachhaltigkeit

Nirgendwo ist das nebulöse Rätselwort „Nachhaltigkeit“ besser erklärt als in einer Schrift, die von vielem handelt, nur nicht von dem, was sich eine Welt zum Gegenbegriff erkoren hat wider die Furcht vor dem Kollaps, an dem sie unkontrolliert und konsequent arbeitet. In Immanuel Kants „Kritik der Urteilskraft“, die erstmals im Jahr 1790 erschienen war, heißt es vom gemeinen Menschenverstand, er habe drei Maximen: „1. Selbstdenken; 2. An der Stelle jedes andern denken; 3. Jederzeit mit sich selbst einstimmig denken.“* Was Nachhaltigkeit bedeutet, lässt sich hieraus ersichtlich ableiten: 1. Verantwortung übernehmen; 2. die Egoismen überwinden; 3. eine Sicht auf das Ganze entwickeln.

* Kritik der Urteilskraft, § 40

Gebrauchsanweisung

Handwerk: die Fähigkeit, Logik praktisch zu machen.

Frau Blaustrumpf kauft ein

Aus dem Tagebuch eines Marktverkäufers

Am späten Vormittag ist der Marktstand besonders voll. Männer mit zerknülltem Einkaufszettel, der Gemüseconnaisseur mit seiner jahrealten Jutetasche, die leise sprechende und schüchterne Alte, die stets mit ihrem Rollwagen die Wochenendwaren holen geht, die neugierige Touristin, die sich beglückt unters Stadtvolk mischt, und – Frau Blaustrumpf. Sie alle kaufen ein. Suchen nach dem erntefrischen Obst, den saftigen Aprikosen und prallen Süßkirschen aus dem Umland. Frau Blaustrumpf kommt jeden Samstag, immer um dieselbe Zeit, zwanzig nach elf. Sie wartet nicht, bis sie aufgerufen wird, ihre Bestellung aufzugeben. Da sie genau weiß, was sie will, hebt sie ihre Stimme, sobald der Verkäufer auffordernd in die Runde blickt, wortlos fragend, wer an der Reihe sei. Das ist sie nicht, aber es kümmert sie auch nicht, dass sie sich vordrängt. „Fünf Karotten“, ruft sie bestimmt, „nicht mehr als dreihundert Gramm.“ Der Händler greift in die Auslage, packt die Zahl der Möhren mit sicherem Gespür für das Gewicht und legt sie, zwei dickere, drei schmale, auf die Waage. „Dreihundertfünf?“, ruft er in das Stimmengewirr. „Weniger“, ist die knappe Antwort, „das ist mir zu teuer.“ Natürlich kennt er die Kundin und weiß, dass Widerspruch zwecklos wäre. Also ein kurzer Tausch: „Jetzt sind wir bei zweihundertsiebenundachtzig Gramm.“ „Sind die behandelt?“ Maliziös blickt der Verkäufer Frau Blaustrumpf an, er zögert einen unmerklichen Moment: „Noch nicht.“ Und fügt, bevor sie über seine doppelbödige Antwort länger nachdenken kann, rasch hinzu: „Haben Sie zudem einen Wunsch?“ „Nein“, sagt sie knapp. „Dann macht das fünfzig Cent“, bittet er. Sie hat aber noch etwas entdeckt. „Wenn nichts auf der Waage liegt, zeigt sie trotzdem 0,5 Gramm an“, mäkelt sie an der Genauigkeit des Instruments herum. Der Verkäufer verschluckt sich fast an einem Kirschkern, den er im Gaumen lutscht, und verliert sein leicht spöttisches Lächeln. „Dafür runde ich immer ab.“ Schweigend zählt sie die Münzen in der Hand und gibt ihm siebenundfünfzig Cent. „Ich habe zwei abgezogen.“ „Und ich hatte nur fünfzig verlangt“, meint er. „Lassen Sie uns genau sein, junger Mann“, ermahnt sie ihn mit ungewohnter Strenge. „Bei mir können Sie sich ihr charmantes Getue sparen. Ich kaufe nie mehr, als ich mir vornehme.“ Inzwischen ist das Gebrabbel rund um die Gemüsekisten deutlich zurückhaltender geworden. In die wachsende Ruhe spuckt er den Kirschkern aus, er will ihn unbemerkt auf den Boden fallen lassen und verschätzt sich. Der Obstrest landet versehentlich in der noch offen daliegenden Einkaufstasche von Frau Blaustrumpf. Sie erstarrt; er grinst. „Meine Zugabe“, kommentiert er. „Ich kann nicht anders, als großzügig zu sein.“ Und blickt in die amüsierte Runde: „Der Nächste, bitte.“

Das Körnchen Wahrheit

Was im Denken Anlass zum Ärgernis ist, kann dem Leben als töricht erschienen. Jedes Urteil müht sich um Eindeutigkeit und drückt sie aus in der Schärfe, mit der es formuliert wird: eine Sache ist so und nicht anders. Das sagen zu können, rechtfertigt die Anstrengung des Denkens. Die Aufgabe des Lebens hingegen ist, in Beziehung zu setzen und jene Weisheit mit der Zeit zu entwickeln, die ein letztes Wort durch eine nachfolgende Handreichung versöhnlich aufhebt, die eine endgültige Überzeugung listig bereichert mit überraschenden Einsichten in ihr Gegenteil. Dass in jeder Kritik ein Körnchen Wahrheit stecke, wie die Alltagsrede unterstellt, mag auch umgekehrt gelten: In jeder Wahrheit verbirgt sich schon die Kritik an ihr.

Stein des Anstoßes

Anstoß zu erregen, also einen Denkanstoß zu geben und in dem Maße anstößig zu sein, wie sich eine Mehrheit über ihn erregt, ist das Privileg derer, die ihrer Zeit voraus sind. Man kann nicht mit einer Sache den Stand der Dinge stillschweigend kritisieren, ohne als Person in den Verruf zu geraten, die wohlgemeinte Ordnung zu zerstören. Der Erneuerer gefährdet sich stets selbst, wenn er beginnt, mit Konventionen zu brechen. Niemals geht es weniger um den Gegenstand und vielmals um das innovationsfreudige Individuum als in den Augenblicken, da ein bestehendes Erfolgsmuster radikal in Frage gestellt wird, um Neues zu ermöglichen.

Religionskritik

Ein Gott, der den Menschen in seiner letzten Fraglichkeit nicht allein lässt, muss selber im letzten fraglich sein.

Zu dick aufgetragen

Große Geister, Vielbegabte, Tausendsassas, Universalgenies, die Alleskönner unter den Neugierigen und die tief Gebildeten – sie teilen eine zugeschriebene Eigenschaft: unseriös zu sein. Es ist kein Urteil aus Missgunst, das die Mit-und Nebenmenschen fällen, sondern eines, das mangels Vorstellungskraft getroffen wird. Das höchste Talent, das eine überkomplexe Welt kennt, ist das Expertentum.

Drei Gleichgültigkeiten

Dem absoluten Interesse des Narzissten, anerkannt und geliebt zu werden, entsprechen drei große Gleichgültigkeiten wie ein Gegengewicht:
1. Ihm ist Wahrheit kein Kriterium für das, was wirklich genannt zu werden verdient.
2. Die Folgen seiner Worte und Handlungen gehen ihn nichts an.
3. Vergangene Verbindlichkeiten, Verträge, Vertrauensbeziehungen sind ihm egal, wenn sie seiner Gefallssucht nichts mehr nützen.

Erfolgsformel

Zu den schönsten Erfahrungen seines Lebens zählt jener Erfolg, der sich so überraschend einstellte, dass er nie auf den Gedanken kam, nach seinen Bedingungen zu fragen.

Höhenunterschied

So mancher lernt aus einer Niederlage nichts als Hochmut.

Physiologie des Denkens

Voller Bauch, hohler Kopf: schlechte Voraussetzungen, um zu denken. Hohler Bauch, voller Kopf: noch schlechtere Bedingungen, vernünftig zu sein.

Für mich? Echt jetzt?

Unter dem Titel „Für Sie“ erscheint seit mehr als sechzig Jahren eine Frauenzeitschrift, die mit Modestrecken, Kochkolumnen oder Wellnesstips einen persönlichen Ton zur Leserin anschlägt. Inzwischen ist die vertraute Ansprache in allzu vielen Offerten präsent: Wir haben für Sie geöffnet; der Zug wird jetzt für Sie bereitgestellt … Das ist der aktuelle, nervige Sprachgestus in der Kundenbeziehung. Als ob es um nichts anderes ginge, ums Geschäft etwa, um Logistik, um Funktionalität und Professionalität. Noch nie hat das Marketing verstanden, dass einer nicht dadurch gemeint ist, dass man ihm sagt, er sei gemeint, sondern nur dann, wenn er es spüren kann – dass sich die Qualität von Versprechen nur erweist, wenn sie erfüllt werden. Keiner will, dass die Bahn die Wagen für ihn ans Gleis rollen lässt, aber jedermann wünscht sich, dass sie pünktlich am Ziel ankommen, damit er endlich in die Arme schließen kann, wofür er sich auf den langen Weg gemacht hat: für sie.

Zirkusnummer

Es gibt Phänomene, die wir nur in der Übertreibung genau erkennen. Das Leben gehört dazu.

Noch nicht gar

Die besten Kochbücher sind geschrieben wie Romane, nach deren Lektüre keiner ernsthaft glaubt, nun befähigt zu sein, die Figuren zu leben, die darin eine Rolle gespielt haben. Aber viel schöne Literatur zu lesen bedeutet, sein eigenes Leben klarer zu verstehen, wie sich auch der kulinarische Geschmack bildet – weniger an der Nachahmung der Rezepte als – an der erzählerischen Qualität des Zungenspitzengefühls, das Gewürzsamen und Wildkräuter wohlsortiert vorzustellen weiß.

Das letzte Wort

Die höchste Kunst der Schlagfertigkeit ist, das letzte Wort zu haben, ohne noch etwas sagen zu müssen. Es gibt ein Schweigen, das so bedeutsam und eindeutig ist, dass niemand mehr wagt zu widersprechen. Das heimliche Ideal der Rhetorik ist horribile dictu die Sprachlosigkeit der anderen.

Lebensarithmetik

Es ist kein Doppelleben zu führen, ohne dass sich ein Mensch aufteilen müsste. Und noch jeder, der sein Leben geteilt hat, macht die Erfahrung, dass er sich darin als ganz erlebt.

Geschlechtsunterschied

Er, ein Mann mit Geheimnissen. Sie, eine Frau mit Geheimnis. Was ist der Unterschied? Gewiss nicht die Vielzahl dort, die Einzigkeit hier. Was bei ihm ans Licht kommt, wirft einen Schatten auf ihn. Was sie an Schattierungen hat, bringt sie zum Strahlen. Nähme man ihm seine Geheimnisse, verlöre er seinen Selbstwert. Achtete man ihr Geheimnis nicht, vergriffe man sich an ihrer Würde.

Lass dich nicht stören

Aus dem Alltag der paradoxen Kommunikation:
Sie setzte sich ein wenig abseits in den Garten, so, dass man sie sehen musste, jedoch mit dem Rücken zur Terrasse, auf der er sich mit seinem Gast ins Gespräch vertieft hatte. Das Buch, das sie mitnahm, blieb unaufgeblättert. An ihrem Telefon nestelte sie lustlos herum. „Lasst euch von mir nicht stören“, hatte sie im Vorbeigehen noch wie zum Gruß der kleinen Tischgemeinschaft bestellt. Die vertraute Unterredung erstarb unversehens. Nichts, dachten beide im Moment, wirkt als Irritation besser als dieser heuchlerische Satz. Sie wusste, dass sie störte, sonst hätte sie es nicht so gesagt. Er wusste, dass sie es wusste und ihn wissen ließ, es nicht zu bemerken, was ohnehin sinnlos wurde, als sie es bemerkt hatte: Lasst euch von mir nicht stören (die ich euch längst gestört habe, indem ich euch aufforderte, euch nicht stören zu lassen). „Du störst nie“, erwiderte er, indem er auf die schamlose Scheinheiligkeit eine passende Lüge draufsetze.

Die zwei Längen der Langeweile

Kurzweil wie Langeweile kennen je zwei Weisen, in denen die Zeit präsent ist: als das, was sich aufdrängt, und als unauffällige, stille Erlebnisbegleiterin. In der Muße gelingt, was sonst nur dem Glück beschert ist: die Zeit wird einfach vergessen, mag sie noch so lang währen; im Müßiggang indes dehnt sie sich bis zur unerträglichen Last. Im heitersten Augenblick wiederum fällt Zeit nicht auf; im gedrängten und Hektik auslösenden Moment fällt sie hingegen unmittelbar ins Gewicht.

Der Fluch der Flucht

Hin und wieder, wenn bestehende Verhältnisse verkrusten, wenn Ohnmachtsgefühle sich einstellen, wenn die Lust aufs Abenteuer kitzelt oder man sich selbst nicht mehr erträgt, wenn Überlastung oder Unterforderung zu lang andauern, setzen sich Fluchtgedanken durch. Einfach nur abhauen, ohne Abschiedsgruß, ohne Gepäck. Als alter Überlebensreflex kennt die Flucht nur die unmittelbare Bewegung; sie weiß nichts von Zielen und kümmert sich nicht um Orientierung. Das ist kein Mangel, solange der Drang wegzugehen alles dominiert. Im Augenblick des ersten Innehaltens zeigt die Flucht allerdings, dass sie als Problemlösung nicht taugt. Mit Vehemenz bricht plötzlich die entscheidende Frage durch: Wohin? Und straft den der Dummheit, der gerade vor ihr geflohen war, weil er sie weder ertragen noch beantworten kann.

Geschwindigkeitsrausch

Jugend: das Gefühl, sich selbst einholen zu müssen.
Alter: die Ahnung, von sich selbst eingeholt zu werden.