Monat: Juli 2018

Zu romantisch

Jede Romantik geht zugrunde an ihrer eigenen Übertreibung. Sie endet als klebrige Nostalgie, als süßer Kitsch, als frommer Wunsch, nicht zuletzt als ideologischer Terror.

Prüfungsgespräch

„Das ist ja trivial.“
„So? Dann geben Sie mir doch mal die ungewöhnliche Erklärung für das Gewöhnliche.“
„Äh, das verstehe ich jetzt nicht.“
„Na, das Wort trivial steht für ,gewöhnlich’ und stammt von trivium, was wiederum im lateinischen Mittelalter die drei Wege bezeichnete, auf denen der Schüler sein Grundstudium bestritt: Grammatik, Rhetorik, Dialektik. Erst danach durfte er sich an die anspruchsvollen Fächer wagen wie Arithmetik oder Astronomie. Damit das Ungewohnte zur Gewohnheit werden konnte. Das nennt man Lernen.“
„Das war jetzt aber gar nicht trivial. Eher, um in Ihrem Erklärungsansatz zu bleiben: nicht allgemein bekannt, also auf der unteren Stufe des Studiums. Ihre Herleitung kam gewissermaßen aus dem quadrivium, der höheren Bildung. Oder, wenn ich es wagen darf: Das nennt man dann wohl oberlehrerhaft.“
„Nicht schlecht.“
„Lernen, sagen Sie, meint: das Ungewohnte zur Gewohnheit werden zu lassen. So könnte doch Lehren bedeuten, im Gewöhnlichen das Ungewöhnliche zu zeigen.“
„Mein Schüler.“
„Werden Sie jetzt bitte nicht trivial, Herr Lehrer.“

Denken im Dialog

Die Leistungsfähigkeit eines Denkens zeigt sich an der Art, wie es ein Gespräch schadlos übersteht. Als Prüfstein mag da weniger gelten, dass es seine Meinungen erhalten, sondern woran es seine Überzeugungen gebildet hat. Sich einlassen, ohne sich zu verlieren, ist die Aufgabe; sich entwickeln, ohne sich zu verbiegen, der Anspruch. Alles andere hieße, ignorant und arrogant zu sein.

Pass auf dich auf!

Der wohlmeinende Abschiedsgruß des Freunds, man möge auf sich aufpassen während der anstehenden langen Tour, ermuntert nicht zur Wachsamkeit, sondern erinnert unbeabsichtigt an die ganze Trostlosigkeit einer Ferienreise, bei der es niemand anderes kann, weil man allein unterwegs ist. Das haben alle Selbstimperative an sich – Erkenne dich selbst! Sorge dich nicht! –, dass ein Einzelner gar nicht leisten kann, was da von ihm gefordert wird. Sie sind Verlegenheitsgesten in einer sozial deformierten Situation.

Zu kurz gedacht

Der Aphorismus erkauft seine Weisheit mit dem Verlust des Wissens, das nur durch den Kontext entsteht. Er gibt zu denken, weil andere denken, er sei schon die Verdichtung eines Gedankens, ohne dass er selber je die Probe darauf bestehen müsste. Seine Anbiederung als Zitat kommt aus dem Bedürfnis, wieder in einem Zusammenhang zu stehen, von dem er einst meinte, sich arrogant lösen zu können.

Für und wider, immer wieder

Jede Entscheidung ist ein Gewaltakt, der sich mit den ausgeschlossenen Möglichkeiten auch gegen sich selbst richtet, nicht nur wider das, was nicht zum Zuge kommt. Was man sich zu tun oder zu sein versagt, ist Eigenes, das fremd bleiben musste, und nicht bloß Fremdes, das nicht zu eigen werden durfte. Es sind meine Gelegenheiten, die ich verpasst habe; kaum jemals irgendeine Chance. Was mir möglich wäre, ist schon deswegen nicht nur vage. Die Bestimmtheit der eigenen Möglichkeit heißt Vorstellung oder Erwartung, Entwicklung und Vision.

Handelskrieg

Handelskriege entstammen dem Denkmuster von Kleinkriegen: Wer Zölle erhebt, meint, dass es schon ein eigener Vorteil sei, wenn man den anderen benachteiligt. So agieren das Ressentiment und der Neid, mangelndes Selbstvertrauen und Minderwertigkeitsgefühle. Jede Größe leitet sich ab über den Vergleich, bei dem wächst, wer sein Gegenüber niederhält. Die Kraft wird nicht eingesetzt, um selber aufzutrumpfen, sondern um den vermeintlichen Gegner zu schwächen.

Alle Wetter

Es ist der Normalzustand des Wetters, verrückt zu spielen. Mal zu heiß, mal zu kalt, für die Jahreszeit zu trocken, im Durchschnitt zu nass – wann immer über das Wetter gesprochen wird wie über ein unfolgsames Kind, hat es sich nicht an die Regel gehalten und gelegentlich mit Kapriolen überrascht. Unter den täglichen Nachrichten ist es die Meldung mit der zuverlässigsten Unterhaltsamkeit. Eine Welt ohne Wetter wäre öde. Bei den meisten Menschen ist das Interesse an der Zukunft reduziert auf das Wetter von morgen.

U2

Was diese Welt dringend braucht? Unterscheidungsvermögen und Urteilskraft.

Das Unbehagen in der Geschichte

Es sind deutliche Anzeichen einer vorrevolutionären Phase, wenn immer mehr Zeitgenossen sich in der eigenen Gegenwart nicht mehr zu Hause fühlen, ja sich ihrer schämen. Fragt sich nur, ob sie es sich in der Vergangenheit behaglich machen oder die Zukunft zur radikalen Gestaltungsaufgabe erklären.

Tourismusfalle

Die Verwandlung eines Urlaubsparadieses in ein Urlauberparadies ist der Schritt in die Ferienvorhölle.

Hinter verschlossenen Türen

Der Erfolg von Geheimdiensten und der Geheimdiplomatie ruht auf der schlichten erkenntnistheoretischen Annahme, dass wir üblicherweise nur das für wahr halten, was offenkundig und berechenbar ist. Alles andere, so die implizite Voraussetzung einer jeden Demokratie nach der Aufklärung, hat nicht stattgefunden oder ist gefälscht. Nur dadurch erhält sie sich, was ihre naive politische Grundbedingung ist: die Teilnahme an Entscheidungen und die Teilhabe an der Entwicklung einer Gesellschaft. Das Geheimnisvolle ist unter dieser Konstellation vor allem Inhaltlichen erst einmal ein Raum, von dem fast niemand weiß, ja den es offiziell nicht einmal geben darf, eine Sonderzone, die für die meisten unzugänglich ist. Wenn also vor aller Augen ein Vier-Augen-Gespräch anberaumt wird, ist das, was im Privaten Neugier weckt, im Politischen immer ein Grund, Verdacht zu schöpfen. Demokratie bedeutet zu wollen, dass das politische Handeln vor Zeugen geschieht, die es jederzeit bezeichnen und beurteilen können.

Die allzu lange Nase

Die öffentlichen Lügen werden nicht durch Wahrheit überwunden, sondern als lächerlich entlarvt.

Verantwortungsverhütung

Viele Großkonzerne verstehen unter Service die zweifelhafte Fähigkeit, die eigene Dienstleistung technisch so zu perfektionieren, dass niemand für sie einstehen muss. Differenziert ausgelegte Computerstimmen, lange Listen von frequently asked questions, die wiederholte Rückfrage per Standardbrief, die schon einmal gegebene Informationen einfordert (eine Spezialität der Bahn, wenn nach Verspätungen Fahrkarten zu erstatten sind), das Versprechen der Erreichbarkeit rund um die Uhr, das in telekommunikativen Warteschleifen vor allem ein Test auf die Nervenstärke ist – das alles sorgt für den Schein eines lückenlosen Systems an Zuvorkommenheit. Nur eines darf nicht aufkommen: der Wunsch nach zuverlässiger Auskunft durch einen Menschen. Da heißt die übliche Antwort „Keine Ahnung!“. Dass die Mitarbeiterin am Schalter der Postfiliale bei der Suche nach einem verschollenen Einschreiben die Hilfe hartnäckig verweigert mit dem Hinweis, man habe eine Servicenummer, lässt sich wie eine nachträgliche Bestätigung lesen für die unternehmerische Entscheidung, auf Menschen nicht mehr zu setzen. Man darf sich nur nicht wundern, wenn so die Lust zu delegieren, degeneriert. Das Korrelat zum Anvertrauen heißt Verantwortung. Die allerdings ist eines immer: persönlich.

Der Freund meines Freunds

Eine alte politische wie persönliche Regel: Beim Eingehen einer neuen Freundschaft achte darauf, welche alte Beziehung sie beendet.

Plötzlich und unerwartet

„Es kam über uns wie ein Schicksal.“ – Das Schicksal kann nur kommen, nie gehen.

Realitätsverweigerung

Nichts ist gefährlicher für die Welt als Menschen, die ihr Zuhause in einer Parallelwelt haben.

Risikokontrolle

Vor lauter Sorge um einen Plan B kommen manche Menschen nicht dazu, einen Plan A zu entwickeln. Wer nichts riskiert, riskiert alles.

Die Welt umarmen

Freude, die sich nicht teilen lässt, ist Schmerz.

Das wird nie was

Die meisten Neuerungen in Organisationen scheitern nicht mangels Phantasie oder Ideenreichtum, sondern am Berufszynismus der lieben Kollegen.

Wo ist das Problem?

Ist es zu kühn, alle Schwierigkeiten auf ein einziges Problem zurückzuführen? Es könnte lauten: Der Mensch ist das Wesen, das für sich selbst eine Zumutung ist.

Habe ich Sie verletzt?

Die Gänge im Zug sind so eng, dass sie Gegenverkehr kaum vertragen. Man muss zwischen die Sitzreihen ausweichen, mindestens Brust und Bauch einziehen, um Passagieren, die in die andere Richtung streben, Platz zu machen. Er kehrte zurück vom Bordbistro, ohnehin auf unsicheren Füßen, weil er links den frisch aufgewärmten Flammkuchen hielt, in der rechten Hand die kühle Flasche Bier, während der Wagon eine seiner heftig ruckartigen Bewegungen vollführte, die ihn über die Weiche aufs nächste Gleis bringen. Das Mitbringsel konnte er noch elegant balancieren. Aber er vermochte nicht zu verhindern, dass die Zugbegleiterin, die ihm den Rücken zukehrte, in seine Arme fiel. Und die er schloss, um sie zu halten. „Habe ich Sie verletzt?“ stammelte sie erschrocken. Er zögerte den Bruchteil eines langen Augenblicks. Für eine Schaffnerin eine schöne Frau, schoss ihm ein hässlicher, aber halbwegs wahrer Gedanke durch den Kopf. „So schnell geht das nicht bei mir“, antwortete er, „Aber ich könnte mir vorstellen, dass Sie es schafften, meinem Herz einen kleinen Knacks beizubringen.“ Was aus ihm so flapsig sprudelte, sorgte bei ihr für betretenes Schweigen. „Ich komme später zu Ihnen“, sagte sie leise nach einer kurzen Pause, in der sie sich sammelte und aus seiner Umarmung löste. Jetzt habe ich sie verletzt mit meiner blöden Bemerkung, dachte er nur. Und sie? Ließ sich die ganze Zugfahrt nicht mehr blicken.

Pokerface

Wie sich die Politik und das Verhältnis der Staaten zueinander verändert hat in den vergangenen Jahren: Man achte auf die Gesichter der Unterhändler. Wo sie einst lächelten, zeigen sie heute allenfalls eine Fratze der Freundlichkeit. Im Bemühen, den Deal für sich optimal zu gestalten, wählen sie bestenfalls ein Pokerface. Je mürrischer sie schauen, desto mächtiger fühlen sie sich.

Liebe und andere Talente

Die größte Kraft der Liebe ist nicht die Anziehung, sondern ihr Talent zur Versöhnung.