Tag: 1. September 2018

Geschmacksache

Am Ende eines üppigen Mahls stehen die Teller blank auf dem Tisch, kein versteckter Rest liegt am Porzellanrand, nichts ist von der Beilage übriggeblieben. Der Kellner kommt, um abzuräumen, und – stellt die obligatorische Frage: „Hat es geschmeckt?“ „Das sehen Sie doch“, brummt der Gast, erkennbar angefasst. Ihn strengt es seit vielen Jahren zunehmend an, auf die überflüssigste aller Floskeln höflich zu antworten. Was soll er denn erwidern: dass er tagelang zuvor nichts gegessen hat und er deswegen alles, gleich welcher Qualität, verschlungen habe; dass seine Geschmacksnerven, durch eine Krankheit verursacht, nur noch Bitterstoffe meldeten; dass er sich so angeregt unterhalten hat, weshalb er überhaupt nicht einmal beachtet habe, was er da isst? „Das kann ich gar nicht sehen“, erwidert der Ober trocken. „Wieso? Der Teller ist doch leer, fast geleckt?“ „Entschuldigen Sie, aber ich kann dennoch nicht wissen, ob es Ihnen geschmeckt hat. Ich frage nach einem Urteil, nicht nach einem Faktum.“ „Bitte?“ „Das, was offensichtlich ist, gibt keine Auskunft darüber, was ich der Küche gern weitergäbe.“ „Das verstehe ich nicht“; der Gast zuckt mit den Achseln. Der Kellner wird leicht ungeduldig. „Nicht Ihr voller Magen entscheidet darüber, wie das Kabeljaufilet mit der Estragon-Senf-Sauce harmoniert. Sondern Ihre Zunge. Und die ist näher am Hirn. Nur das würde ich gern erfahren: eine Einschätzung, das Wort zur Ware.“ „Ganz schön anstrengend“, antwortet der Mann am Tisch. „Nicht das Essen, nicht das Urteil. Aber unser Dialog. Ich brauche jetzt erst einmal einen Aquavit, nicht um meinen Bauch aufzuräumen, sondern meinen Kopf. Bitte!“ „Dann hat es Ihnen also nicht geschmeckt. Sie brennen sich doch alle feinen Unterschiede weg.“ „Das können Sie doch gar nicht wissen“, reagiert der Gast knapp.