Tag: 7. September 2018

Realität im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit

Mit dem Verlust des Originals, das in einer Zeit von augmented oder virtual reality verschwindet, schon weil uns das Unterscheidungskriterium abhanden kommt, das die Urform von ihren Nachbildungen und Ableitungen differenziert, geht die Grundkraft unseres Lebens, das Schöpferische, auf in Prozesse technischer Reproduzierbarkeit. Wenn spätere Generationen noch in der Lage sein werden zu fragen, was die Schwellensituation dieser Tage scharf bezeichnet, so ist es über das, was Digitalisierung meint, hinaus der Moment, an dem die Lust am Anfangen verschwunden ist. Sobald Maschinen Organe perfekt nachbauen, Roboter Gefühle täuschend echt simulieren, sobald die Welt im Bildschirm in allem verlockender ist als jene, die wir ohne Brille sehen, wird sich … ja, was? Wird sich die Lebendigkeit des Leben vielleicht frustriert zurückziehen, weil keine ihrer Anstrengungen mehr lohnen. In der Unmittelbarkeit digitaler Zugangsarten zu Welt gedeiht nicht mehr, was aus der Verzögerung Freude zieht, der Verlegenheit seine Leistungen abringt, dem Vertrauen zumutet, Bindungskräfte zu erzeugen. Was Walter Benjamin in seiner berühmten Schrift über „das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ die Aura nennt, ist keine Eigenschaft eines Gegenstands im Verhältnis zu dessen Wahrnehmung. Es ist der Name für die „Erscheinung einer Ferne, so nah das sein mag, was sie hervorruft“*. Diese Distanzierungsfähigkeit, die dem Anfang seine Besonderheit schenkt, dem Original seine Bedeutung und nicht zuletzt menschlichem Leben seine Menschlichkeit, kommt künftig allenfalls noch als Umständlichkeit zu verqueren Ehren.

* Das Passagen-Werk, Gesammelte Schriften. Band V, 560