Tag: 21. September 2018

Das Kind im Manne

Ein kleines Charakterbild

Im Restaurant wählte er am liebsten den Vorspeisenteller, eine Variation der kleinen Gerichte, oder das Überraschungsmenü. Die Liebe konnte er nie, wie die meisten seiner Gesprächspartner, als Hort der Gewissheit erleben. Wo andere kurz vor der eigenen Ernüchterung noch schwärmten, sie seien endlich angekommen, sah er nur Aufbruch und Ausbruch aus der Seelenödnis. Er war kein erotischer Heimatkundler, sondern empfand sich als libidinösen Weltenbummler. Mit stets leichtem Gepäck quartierte er sich am liebsten in Hotels ein. Wohnen war ihm ein Gräuel; und wenn, dann nur zur Miete. Angestellt zu sein, ertrug er allenfalls in finanziellen Notlagen. Sonst stellte er sich in Gesprächen mit den phantasiereichsten Professionen vor, immer am scharfen Rand zum Künstler angesiedelt: Er war ein Bauzeichner, der in Wahrheit noch seinen Durchbruch als anerkannter Architekt vor sich hatte; und übte sich als Journalist, dessen Roman in der Schublade fast fertig geschrieben liegt. Vom Programmieren verstand er so viel, dass man meinte, der Supercode für eine einfache Sprache in der Informationstechnologie sei schon gefunden. Und nicht zuletzt verhinderte nur eine Verletzung, dass er als Profisportler Karriere gemacht hatte. Was an ihm faszinierte, war nicht seine notorische Unfähigkeit sich festzulegen, sondern dass er aus ihr den unbändigen Antrieb zog, sich mit nichts zufrieden zu geben. Er verkörperte die Neugier als in Kraft verwandelte Entscheidungsschwäche. Nur Freunde hatte er keine, was die vielen auf der ganzen Welt verteilten Bewunderer, die sich für seine Freunde hielten, wenn überhaupt, meist zu spät bemerkten. Deren Traurigkeit bekam er nie mit, weil er längst wieder weitergezogen war. Seine Heiterkeit hatte Züge von einem unbedarften Kind.