Monat: September 2018

Duell der Dummheit

Anhaltende öffentliche Versäumnisse, die wir nicht aus Nachlässigkeit begehen, sondern die durch mangelndes Empfinden für gesellschaftliche Nöte, aus Engstirnigkeit oder politischem Ungeschick entstehen, die eintreten, weil Entscheidungen gefällt werden, ohne der Pflicht nachzukommen, zuvor die Konsequenzen sorgfältig zu bedenken, rufen im großen Stil Reaktionen hervor, die noch geistloser sind als das, worauf sie antworten. Der Populismus entsteht im Wettbewerb um das größte Maß an Schlichtheit, mit dem sich noch eine Stimmenmehrheit finden lässt. Statt den Geist der klugen Unterscheidung wiederzubeleben, entgegnet man den Brandstiftern, die sich ins Gewand des Biedermanns gekleidet haben, mit Anbiederung. Politisch erlebt Deutschland gerade nach tagelangem Schweigen ein wortreich inszeniertes Duell der Dummheit.

Traumhafte Siege

Keiner redet so oft von seinen vermeintlichen Siegen wie der schlechte Verlierer. Ihm ist der Erfolg zu Kopf gestiegen, weil er ihn in der Realität nie erzielen konnte.

Frag doch mal

Das Muster der Antwort, also: Erklärungen und Lösungsvorschläge, Beteuerungen oder Versprechen, taugt nicht, um tiefsitzenden politischen Enttäuschungen angemessen zu begegnen. Angesichts fehlender Fraglichkeit – des Gefühls, nicht gefragt zu werden und nicht gefragt zu sein, der zur Schau getragenen, demokratisch unbilligen Überzeugung, keine Alternative zu haben – wirkt jede Entscheidung arrogant. Das Ende des Schweigens derer, die ein professionelles Verhältnis zum Wort pflegen sollten und zu lang in wesentlichen Momenten stumm gewesen sind, könnte vorerst aber nicht bedeuten: zu reden, sondern zu fragen und zuzuhören, zumindest bei jenen, denen der Ernst des Sprechens noch nicht abhanden gekommen ist. Empörung ist oft nur die Fortsetzung der Stummheit mit lautstarken Mitteln.

Das Malheur unserer Tage

Eine Melange aus Engstirnigkeit und Schlampigkeit liefert die Zutaten für das Malheur unserer Tage. Die Gegenvorstellungen sind nicht nur Weitsicht und Klarheit, sondern Großzügigkeit und Wertschätzung.

Erfüllung der Sehnsüchte

Mindestens so entscheidend wie die Frage, wofür man kämpft, ist bei einer politischen Willenskundgebung das Problem, mit wem man sich verbündet. Dieselbe partielle Überzeugung in der Sache wird, von einem anderen ausgesprochen, allzu schnell eine andere. Manches sei doch vernünftig? Wer so denkt, versteht nicht, dass selbst kleinste vernünftige Einsichten im Kontext von grölendem Hass, gewaltbereiter Wut und aufrührerischer Hetze weder Vernunft noch Einsichtigkeit behalten, sondern sich in kaltes Ressentiment verwandeln. Die reine Gegnerschaft lässt sich allzu leicht instrumentalisieren von Gestaltungskräften, mit denen am Ende keiner sich hatte gemein machen wollen. Im Jahr 1927, in einer Zeit, da sich viel Unzufriedenheit aufgestaut hatte, schrieb Paul Valéry: „Die Erfüllung unserer Sehnsüchte entfernt uns nicht immer von unserem Untergang.“*

* Paul Valéry, Notizen über Größe und Niedergang Europas, in: Werke 7, 169

Geschmacksache

Am Ende eines üppigen Mahls stehen die Teller blank auf dem Tisch, kein versteckter Rest liegt am Porzellanrand, nichts ist von der Beilage übriggeblieben. Der Kellner kommt, um abzuräumen, und – stellt die obligatorische Frage: „Hat es geschmeckt?“ „Das sehen Sie doch“, brummt der Gast, erkennbar angefasst. Ihn strengt es seit vielen Jahren zunehmend an, auf die überflüssigste aller Floskeln höflich zu antworten. Was soll er denn erwidern: dass er tagelang zuvor nichts gegessen hat und er deswegen alles, gleich welcher Qualität, verschlungen habe; dass seine Geschmacksnerven, durch eine Krankheit verursacht, nur noch Bitterstoffe meldeten; dass er sich so angeregt unterhalten hat, weshalb er überhaupt nicht einmal beachtet habe, was er da isst? „Das kann ich gar nicht sehen“, erwidert der Ober trocken. „Wieso? Der Teller ist doch leer, fast geleckt?“ „Entschuldigen Sie, aber ich kann dennoch nicht wissen, ob es Ihnen geschmeckt hat. Ich frage nach einem Urteil, nicht nach einem Faktum.“ „Bitte?“ „Das, was offensichtlich ist, gibt keine Auskunft darüber, was ich der Küche gern weitergäbe.“ „Das verstehe ich nicht“; der Gast zuckt mit den Achseln. Der Kellner wird leicht ungeduldig. „Nicht Ihr voller Magen entscheidet darüber, wie das Kabeljaufilet mit der Estragon-Senf-Sauce harmoniert. Sondern Ihre Zunge. Und die ist näher am Hirn. Nur das würde ich gern erfahren: eine Einschätzung, das Wort zur Ware.“ „Ganz schön anstrengend“, antwortet der Mann am Tisch. „Nicht das Essen, nicht das Urteil. Aber unser Dialog. Ich brauche jetzt erst einmal einen Aquavit, nicht um meinen Bauch aufzuräumen, sondern meinen Kopf. Bitte!“ „Dann hat es Ihnen also nicht geschmeckt. Sie brennen sich doch alle feinen Unterschiede weg.“ „Das können Sie doch gar nicht wissen“, reagiert der Gast knapp.