Monat: Oktober 2018

Thesenanschlag

Jede These ist ein Anschlag auf die eigenen Überzeugungen. Als Luther seine fünfundneunzig Sätze wider den Brauch der Kirche, einen Geldhandel mit der Sündenvergebung zu treiben, an den Erzbischof von Mainz und Magdeburg beifügte, legte er mit der Reihenfolge der Behauptungen das Gewicht auf das, was im Testament „Buße“ heißt: die radikale Lebensänderung. Ihr maß er alles zu an Bedeutsamkeit – nicht den Äußerlichkeiten, Autoritätszusagen, Ablassgeschäften. Vor der Umkehr, dem Existenzwandel, steht der Wille, so der Reformator, für sich Verantwortung zu übernehmen und anderen oder anderem weder die Schuld zuzuschreiben für das eigene Los, noch von ihnen Schuldbefreiung zu erhoffen. Es sei denn, aber das ist ein Verweis auf Geist und Kraft, der Glaube könne reichen, das alles zu erbeten von Gott. Indem Luther seine Thesen gegen die ökonomische Ausbeutung der Seelenqual mit Hilfe von Strafandrohungen schrieb, befreite er nicht nur den Menschen von seiner schlimmsten Erfindung, der Folter mit dem schlechten Gewissen und dem Spiel mit der Angst. Er befreite auch Gott von seiner übelsten Rolle: der eines Zuchtmeisters und Menschenpeinigers. Die Thesen sind ein Anschlag auf alles, was durch machtvolle Unterdrückung und unterdrückte Macht an Unrecht geschieht. Und: Die Befreiung des Menschen muss keine Befreiung von Gott bedeuten; sie kann aus der Freiheit Gottes erwachsen. Selbstgewissheit und Barmherzigkeit schließen einander nicht aus, sondern bedingen sich.

Der kleine Dienstweg

Auf dem kleinen Dienstweg geht der Mitarbeiter im Zeitalter der Dokumentation und des Controllings Schritte mit dem größten Risiko.

Das muss Folgen haben

Die größeren Fehler werden gemacht, wenn Fehler, die gemacht wurden, derart drucksend eingestanden werden, dass das Geständnis, so unangenehm es ist, selber schon als die größte Folge zu gelten hat, auf dass danach folgenlos weitergehandelt werden kann wie zuvor. „Rückkehr zur Sacharbeit“ ist das Leitmotiv von Funktionären, die nicht verstanden haben, dass Politik sich nicht in Verfahrensfragen erschöpft.

Warenwelt, Welt des Wahren

Zum Meinungsaustausch brachte jeder Diskussionsteilnehmer nur Beiträge mit, die ihr Haltbarkeitsdatum längst überschritten hatten. Man kannte das Sortiment der Sichtweisen aus ungezählten Unterredungen und wusste, dass nichts Frisches hinzugekommen war. Am Ende blieben sie alle auf ihren alten Anschauungen sitzen; ein Handel fand nicht statt. Nie stellt die Welt die Suche nach Wahrem schneller ein als angesichts der Sucht der Warenwelt nach schnellen Einstellungen.

Kompromisslösungen

Das Wesen politischer Kompromisse ist, dass alle gleichermaßen unzufrieden sind, die sich Problemlösungen versprochen hatten, und jene überaus zufrieden sind, die um sie gerungen hatten.

Gute Gefühle, schlechte Gefühle

Meist sind es die edlen Gefühle, denen wir wünschen, dass sie lang anhalten. Nicht nur die Lust*, vor allem die Liebe will Ewigkeit. Und erfährt nicht selten ernüchtert, dass sie nicht einmal das Ziel gemeinsamer Projekte und Projektionen erreicht. Oft sind es die niederen Leidenschaften, die sich bis in die nächsten Generationen fortsetzen. Rache- und Hasskreisläufe, Neid und Missgunst müssen radikal durchbrochen werden, soll Ruhe, gar Frieden einkehren. Und bauen sich trotz Verzeihungswille und Neuanfangsanstrengungen heimtückisch wieder auf. Die Tendenz zur Unendlichkeit gehört zu den schlechten Regungen des Lebens.

* „Lust will aller Dinge Ewigkeit, will tiefe, tiefe Ewigkeit.“ – Nietzsche, Zarathustra, Das Nachtwandler-Lied 10 und 11

Ökologie

Man muss kein Naturfreund sein, um ein Empfinden zu entwickeln für die einschneidenden Auswirkungen von Atmosphärenvergiftung. Der Klimadefätist an der Spitze Amerikas bekommt ad oculos demonstriert, was eine nachhaltige Rücksichtslosigkeit gegenüber dem politischen und gesellschaftlichen Ökosystem für reale Folgen zeitigt. Worte kontaminieren nicht nur die Gedanken, sondern über sie das Handeln. Vielleicht sind Umwelten doch mehr die Zentren unseres Einflusses, als dass sie von solchen Zentren als deren Umgebung beeinflusst werden.

Lass mich in Ruhe

Die meisten der empfundenen Ungerechtigkeiten verlangen nicht danach, dass eine Sache richtig gestellt oder ins Recht gesetzt wird. Sondern nur, dass man von ihr nicht behelligt wird.

Da geht noch was

Aus dem Tagebuch eines Paartherapeuten:

Er hasste sie dafür, dass sie ihn mit ihrer Liebe arglistig bestrafte.
Sie liebte ihn dafür, dass er sie mit seinem Hass an seine Leidenschaft für sie erinnerte.

Sonderfall Spielglück

Die Verwunderung über die Macht unserer Vorstellungen, der Lebenswünsche und Gedankenwelten, die zuweilen so stark sind, dass sie „sich“ realisieren, verleitet uns, der Möglichkeit einen eigenen Raum zuzuweisen, sie sich auszumalen als eine Art Quellort, in dem das, was noch nicht ist, dennoch irgendwie schon da sei, weil das, was geworden ist, ja von irgendwoher kommen müsse. Zum Greifen nah, bleibt alles Mögliche aber abstrakt und unbegriffen; es ist eben alles Mögliche möglich, nicht zuletzt dass es nicht nur nicht geschieht, sondern nie möglich war. Jeder Lottotipper sollte sich diese Logik des Unlogischen stets vor Augen halten: Was für alle gleichermaßen gilt, dass das Glücksspiel zu Spielglück führen kann, muss für den Einzelnen überhaupt nichts bedeuten. Ob ihm möglich ist, was allen möglich sei, lässt sich nicht schließen, sondern allenfalls nach dem Sonderfall eines Gewinns mit Fug behaupten.

Hunde, die bellen

Je lautstarker der Ruf nach Konsequenzen ertönt, mit denen ein Vergehen zu bestrafen sei, desto weniger muss der Folgen fürchten, den sie treffen sollen. Noch immer ist das Hauptmotiv fürs Reden, vom Handeln zu entlasten.

Zeitläufte

Je schneller das Tempo der Gegenwart, desto größer die Gelegenheiten, dass man mit Chuzpe, eilfertigen Erklärungen und oberflächlich zusammengeschusterten Rechtfertigungen durchkommt. Wer insistiert und genaue Aufklärung verlangt, Gründe wägt oder Hemmungen zeigt, mag im Recht sein. Aber ihm bleibt oft der Erfolg versagt.

Wortwaage

Statt eine „Gerechtigkeit“ zu traktieren, bis sie zur Worthülse ausgeleert ist, sollte das nächste große politische Thema „Wahrheit“ heißen. Es ist allen Debatten vorgeschaltet, erlaubt keine pragmatische Deformation. An ihm muss sich die Angemessenheit einer Aussage prüfen lassen; es geht um solche Klarsichtkriterien wie Logik, Stimmigkeit, Widerspruchsfreiheit; durch sie wird der Unterschied zwischen Sinn und Unsinn von Verboten, Versprechungen und Vertröstungen scharf. Ist Wahrheit das Kriterium von Politik, steht jenseits der Frage, wer Recht habe, die Fähigkeit, richtig zu denken. Dieses Talent zum Maßstab für politischen Erfolg zu wählen, bedeutet weniger, über sie zu streiten, als um sie zu ringen.

Unterscheidung der Geister

Die Frage der Theologie: Lässt sich Gott denken?
Das Problem der Religionsphilosophie: Wie lässt sich ein Mensch denken, der Gott denkt?
Das Thema der Religionswissenschaft: Wo denken Menschen an Gott, wenn sie den Menschen denken?

Beobachtungsasyl

Wie das ungelebte Leben durch seine Wünsche und stillen Hoffnungen das gelebte bestimmt, so verändert auch das unbeobachtete Leben das alltägliche Verhalten. Wir bewegen uns freier, atmen gelassener, handeln entspannter, ja schlafen tiefer im Wissen, nicht im Fokus von Datensammlern und Informationsprofilern zu stehen. Bei allem Gieren nach Aufmerksamkeit: Am Ende ist es dessen Selbstverständlichkeit, die das Leben lebendig sein lässt.

Fluchtursachen

Politiker könnten viel gewinnen, wenn sie wieder den Ernst einer, auch unangenehmen, Frage respektierten und ein Interesse daran zeigten, Erwiderungen als Antwort zu geben. Es ist nicht zuletzt ihr Hang zur wortreichen Ausflucht, der den Wähler nachhaltig in die Flucht treibt. Nicht selten steht dem Volksvertreter der spielerische Ehrgeiz ins Gesicht geschrieben, dass er sich durch lästige Auskunftsrechte herausgefordert fühlt und einen Großteil seines Erfolgs daraus ableitet, wie wirkungsvoll ihm gelingt, in gestanzter Sprachmächtigkeit nichts zu sagen. Sein fatales Ziel ist, dass der Bürger die Lust an der Frage verliert. Wo aber keiner mehr nachfragt, versiegt das Gespräch.

Erfolge der Erbfolge

Je erfolgreicher und stärker die Vorgänger, desto eher gelingt die Erbfolge, wenn die nächste Generation übersprungen wird und gleich die Enkel drankommen.

Der Witzbold im Alltag

Die Etymologie gibt Auskunft darüber, dass der Witzbold, früher auch „Klügling“ genannt, einst als ein Mensch angesehen wurde, dessen Verstand so stark und kühn erschien, dass er andere durch seine Reden mitriss. Wie so vieles ist auch der Witzbold inzwischen zu einem Oberflächenphänomen geworden. Sein Mut und die Kraft seiner Äußerung degenerierte zu neckischer Affektiertheit; die Schärfe seiner Gedanken verkümmerte zur oft lächerlichen Pointensuche. Wenig ist übrig geblieben von einem überraschenden Geist. Eines aber hat sich verschoben: die Zwiefältigkeit, die jeden Scherz auszeichnet und die sich im befreiten Lachen über ihn auflöst, ist beim Alltagswitzbold der Unsicherheit gewichen darüber, ob er eine Sache ernst oder humorig meint. Nimmt man sie als Spott, fühlt er sich bemüßigt, darauf hinzuweisen, es stecke schon mehr darin. Greift man deren Seriosität auf, wird man gleich gescholten, keinen Spaß zu verstehen.

Der Manager als Magier

Wichtiger als jedes vollständige Bild über Gelegenheiten und Risiko, Chancen und Friktionen, die Möglichkeiten und das Scheitern, ist für eine attraktive Perspektive der Glaube ans Gelingen. Was helfen genaue Pläne und wohlfeile Strategien, wenn nicht die Gewissheit hinzukommt, das Ziel trittsicher erreichen zu können. Manager, die nicht Magier sein können, rufen jene verborgenen unternehmerischen Kräfte nicht hervor, die so manches Projekt gegen Widerstände und Widrigkeiten erst hat erfolgreich sein lassen. Eine Perspektive ohne Glauben ist kurzsichtig; einer Perspektive ohne Plan fehlt die Übersicht.

Übermut und Überdruss

In Phasen des Übermuts reicht unser Gespür gelegentlich nicht, den richtigen Zeitpunkt zu treffen aufzuhören. Man bleibt genau jenen Moment zu lang auf einer Party, in dem die nüchterne, objektive Bestimmung, alles sei endlich (auch die heiterste Atmosphäre), vergoren ist zu einem Stoßseufzer der erleichterten Gastgeber darüber, dass der Besucher letztlich doch das Haus verlassen hat: „Endlich!“.

Die Paradoxie des Opportunisten

Obwohl er auf konkrete Gelegenheiten reagiert, sind die Entscheidungen des Opportunisten immer abstrakt. Ihnen fehlt, vor allem wenn es sich um gesellschaftsrelevante Beschlüsse handelt, der Bezug zum großen Panorama. Wie Striche, die sich nie über ein anschauliches Bild zuordnen lassen, sondern vereinzelt und zufällig auf dem Blatt Papier verteilt sind, wirken auch viele politische oder wirtschaftliche Abstimmungen, als seien sie einer Tageslaune entsprungen. Da wundert es wenig, dass der Bürger oder Mitarbeiter nicht nachzieht. Und der Gipfel von dessen Verachtung ist erreicht, wenn das als ein Kommunikatiosmanko erklärt wird, als habe man den Sinn der Sache nicht genügend vermitteln können, weil deren Empfänger Schwierigkeiten im Verstehen hat. Opportunismus erwächst meist aus einem anderen Mangel: Ihm fehlt die Perspektive.

Lesezeichen

Dem Leser erschließt sich die Qualität eines Buchs an dessen sensibelsten Stellen unmittelbar. Sobald der erste Satz eines Romans Sogkräfte entwickelt, die die Lektüre dauerhaft begleiten, darf er auf jene spezifische Wehmut hoffen, die sich beim letzten Satz einstellt, wenn er die Kunstwelt aus Worten wieder verlassen muss. Beim Autor ist das oft umgekehrt: Zweifelnd brütet er lang über den Einstieg in den Text, wohingegen die Schlusspointe sich nicht selten beim Schreiben von selbst ergibt.

Buchvergessenheit

Wer sich je von den kleinen Helden der Astrid Lindgren als Kind gedankenverloren hat faszinieren lassen oder die Schmerzen mitlitt, die Old Shatterhand erfassten, als sein Blutsbruder im Sterben lag, der hat erfahren, was die größte Lust des Lesens ausmacht: das Vergessen. Vergessen wird das Buch in der Hand, der Sessel, in dem man sitzt, die Stunde, der nächste Termin, die abendliche Müdigkeit, kurz: die eigene Welt. Lesen bedeutet, im Fremden sich so zuhause fühlen zu dürfen, dass das Zuhause für einen Augenblick fremd erscheint, wenn das Kapitel geendet hat.

Formfragen

Zynismus erwächst immer aus einem Ungleichgewicht zwischen Inhalt und Form zugunsten der Form. In dem Maße wie er eine Sache verachtet, legt er den Wert auf deren Erscheinung. Nichts scheut er mehr als den Streit um Recht oder Wahrheit. Das Spiel mit Äußerlichem dient ihm, den Schmerz zu vermeiden, der mit einer ernsthaften Auseinandersetzung einhergeht. Wo andere sich begeistern, engagieren, verletzen lassen um einer Überzeugung willen, pflegt er distanzierte Gleichgültigkeit, so lange die Fasson gewahrt bleibt.