Tag: 31. Oktober 2018

Thesenanschlag

Jede These ist ein Anschlag auf die eigenen Überzeugungen. Als Luther seine fünfundneunzig Sätze wider den Brauch der Kirche, einen Geldhandel mit der Sündenvergebung zu treiben, an den Erzbischof von Mainz und Magdeburg beifügte, legte er mit der Reihenfolge der Behauptungen das Gewicht auf das, was im Testament „Buße“ heißt: die radikale Lebensänderung. Ihr maß er alles zu an Bedeutsamkeit – nicht den Äußerlichkeiten, Autoritätszusagen, Ablassgeschäften. Vor der Umkehr, dem Existenzwandel, steht der Wille, so der Reformator, für sich Verantwortung zu übernehmen und anderen oder anderem weder die Schuld zuzuschreiben für das eigene Los, noch von ihnen Schuldbefreiung zu erhoffen. Es sei denn, aber das ist ein Verweis auf Geist und Kraft, der Glaube könne reichen, das alles zu erbeten von Gott. Indem Luther seine Thesen gegen die ökonomische Ausbeutung der Seelenqual mit Hilfe von Strafandrohungen schrieb, befreite er nicht nur den Menschen von seiner schlimmsten Erfindung, der Folter mit dem schlechten Gewissen und dem Spiel mit der Angst. Er befreite auch Gott von seiner übelsten Rolle: der eines Zuchtmeisters und Menschenpeinigers. Die Thesen sind ein Anschlag auf alles, was durch machtvolle Unterdrückung und unterdrückte Macht an Unrecht geschieht. Und: Die Befreiung des Menschen muss keine Befreiung von Gott bedeuten; sie kann aus der Freiheit Gottes erwachsen. Selbstgewissheit und Barmherzigkeit schließen einander nicht aus, sondern bedingen sich.