Monat: Dezember 2018

Spiel mit der Zeit

Die Präpositionen der Zeit: Man kann auf Zeit spielen, wenn man kaum noch Zeit hat. Und mit der Zeit gehen, um nicht zu schnell vergänglich zu sein. Oder aus der Zeit fallen, obwohl man in der Zeit lebt. Aber wo steht der, der nicht auf der Höhe der Zeit ist? Neben ihr, vielleicht besser: neben sich? Ist der ohne Zeit, der aus ihr gefallen ist, oder erlebt er sie nicht gerade intensiver als andere? Ist zeitlos, was die Zeit los ist; oder zeigt es nicht besonders deutlich, was mit der Zeit los ist? In allem gilt: Wir haben genau so lang Zeit, wie das Gefühl andauert, keine Zeit zu haben.

Wissend beflissen

Wenn Ichbezogenheit und der Wille zur Dienstleistung ein Zweckbündnis eingehen, ergibt das jene Form ungezügelter Beflissenheit, der es genau so lang um den Kunden geht, wie die Erwartung aufrecht erhalten werden kann, am Ende mit der Höchstnote sozial und medial beurteilt zu werden. Auf der Wandtafel des Restaurants wünschen die Gastgeber plakativ ein erfolgreiches neues Jahr. Das Leitmotiv soll sein: Don‘t stop until you are proud of yourself. Was das bedeutet, lässt sich nicht übersehen: Ein gutes Dutzend eifriger Schürzenträger eilt nervös zwischen den Tischen hin und her, um dem Gast den Wunsch von den Lippen abzulesen, bevor dieser sich seiner Vorstellungen überhaupt hat bewusst werden können. Doch wehe, wenn das am Ende nicht angemessen honoriert wird: Dann verwandeln sich die allzu Eifrigen sehr rasch in Eifernde.

Das gefühlte Ganze

Unter den Sehnsuchtsbegriffen des Denkens findet sich „das Ganze“ ganz oben. Es ist mehr ein Gefühl als ein Konzept, nie eine Kategorie und dennoch ein handlungsleitendes Bild. Jeder Versuch, es sich als Gedanke zu erschließen, ist schon sein Scheitern. Am nächsten kommt ihm vielleicht die plötzliche Anschauung des Wanderers, der durch eine Lichtung am Hang ins Tal sieht und auf die gegenüberliegenden Berge blickt, ein Panorama schönster Naturformationen. Er versteht auf Anhieb, was am „Ganzen“ so fasziniert: Es ist kaum der vielbeschworene Vergleich mit der Perspektive Gottes. Im Unterschied zu dieser, die alles ins Auge fasst, Großes und Kleinstes, hat der überblickende Mensch gerade keine Chance, sich um die Details zu kümmern. Das Panorama enthebt von der Beschäftigung mit den Kleinigkeiten und Kleinlichkeiten des Lebens.

Verkehrsfunk

Die stärkste unter den Mobilitätseinschränkungen einer alternden Gesellschaft ist der Investitionsstau. Fast fünfundzwanzig Milliarden Euro Fördergelder sind in diesem Jahr nicht abgerufen worden, die von der Bundesregierung für Modernisierungsprojekte wie den ländlichen Breitbandausbau zur Verfügung gestellt wurden. Doch es mangelt nicht an Ideen und Aufgaben. Blockiert werden die Vorhaben vielmehr durch einen gewaltigen Vorschriftenwust und Regulierungsdschungel, durch Verwaltungsvorgaben, ängstliche Beamte, übervorsichtige Behörden, Antragspflichten und Entscheidungsverweigerung. Zur Erneuerungslust gehört wesentlich die Vorliebe für den anarchischen Aspekt des Handelns. Nicht der Mangel an Kräften, sondern deren organisierte Bündelung, um das Bestehende abzusichern, zeichnet Menschen aus, die der Zukunft weniger zutrauen, als die Gegenwart ihnen bietet. Sie verstehen letztlich nicht, dass sie im besten Sinn nur dann das sein können, was sie sind, wenn sie mehr sein wollen als das, was sie sind.

Inzwischen

Zwischen den Jahren meinen es die Tage gut mit den Menschen. Sie fordern kaum, bringen aber auch nur Geringes. Vorhergesehenes geschieht nicht; das Unvorhergesehene bleibt meist aus. So erinnert die Zeit an das, was möglich wäre, ließe man sich von ihr nicht unters Diktat setzen. Und dass der Druck, den sie gewöhnlich ausübt, auch eine große Geste der Barmherzigkeit darstellt, weil ohne ihn das Allerwenigste das Licht der Welt erblickte.

Beraters Schicksal

Der Berater hatte so viele Lösungen parat, dass das Unternehmen, für das er arbeitete, nicht nachkam, ihm die passenden Probleme zu liefern. Die Geschäftsbeziehung wurde beendet.

Gedankenexperiment

Was wäre, wenn die Kirche zur Weihnacht einmal alle Gotteshäuser geschlossen hielte? Was vermissten wir? Den Prediger, der sich, weil das Haus außergewöhnlich voll ist, in Szene setzt, als ginge es darum, die Gemüsereste vom städtischen Erzeugermarkt unter die letzten Passanten zu bringen? Den Banknachbarn, der seine Hände in den Hosentaschen tief vergraben hält, weil er zeigen will, wie widerspenstig er dem familiären Gruppenzwang zur heiligen Handlung gefolgt ist? Die schweren Düfte der Dame, die ihr neues Parfum gleich allzu dick aufgetragen hat? Vermissten wir Organist und Trompeter, die sich für ein paar Choräle hektisch zusammenraufen, einander kaum im Takt folgend, weil sie keine Zeit zum gemeinsamen Üben fanden? Die Verniedlichung einer ungeheuren Botschaft? Das Gebrabbel derer, die sich für nichts interessieren außer für sich selbst? „Macht zu, die Tor / die Tor macht dicht“, einmal könnten die Gemeinden doch diesem Ruf folgen und ihre Andachtsorte verriegeln. Was vermissten wir? Vielleicht bekämen viele eine verstörende Sehnsucht, die seltenen Besucher wie die Kirchenleute, eine brennende Sehnsucht nach einer Gelegenheit, sich dankbar zu zeigen, eine ansteckende Sehnsucht, anderen in fragilen Worten zu erzählen von den eigenen Erfahrungen mit einem Gott, der den Menschen annimmt, ohne Bedingungen zu stellen, eine unbestimmte Sehnsucht, die nicht weiß, was ihr fehlt, weil sie nicht einmal mehr sich gegen das stellen kann, was ihr fremd ist, eine verlegene Sehnsucht, die sich ihrer selbst schämt, eine beglückende Sehnsucht, welche die Kirchentüren nicht nur aufschließt, sondern die Herzen weit macht.*

* Der dänische Denker Sören Kierkegaard hat ein solches Gedankenexperiment einmal angestellt. In einer kleinen Anmerkung zur „Unwissenschaftlichen Nachschrift“ notiert er: „Wenn ein Mann den Mund so voll Essen hat, dass er aus dem Grunde nicht zum Essen kommen kann und es damit enden muss, dass er Hungers stirbt, besteht dann das Ihm-Speise-Mitteilen darin, dass man ihm den Mund noch voller stopft, oder nicht vielmehr darin, dass man dafür sorgt, etwas davon zu entfernen, damit er dazu kommen kann zu essen?“ – Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift zu den Philosophischen Brocken, Erster Teil, Gesammelte Werke 16. Abt., Düsseldorf/Köln 1957, 271 Anm.

Der Engel

Am lichten Vormittag der letzten Gelegenheit, vor dem Fest ein Präsent zu finden, ist die Stadtbahn noch einmal aufgeregt laut. Kinderkreischen, das metallische Quietschen der Bremsen, die gelangweilten Durchsagen aus der Lenkerkabine, sie mischen sich mit dem unausgesetzten Stressgeflüster und Stimmengewirr der Fahrgäste. Alles drängt in die halbtags geöffneten Geschäfte in der Hoffung, eine Verlegenheit am Gabentisch gerade noch vermeiden zu können. Inmitten der nervösen Unruhe sitzt eine Frau auf der Bank. Ihr Haupthaar hat sie verborgen unter einer leichten, hellen Strickmütze. Ihr Blick ist gerichtet auf ein Buch; konzentriert nimmt sie den Text auf. Nichts scheint sie zu erreichen von dem, was um sie herum hektisch wuselt. In einer anderen Welt zuhause, muss sie sich nicht umblicken, um gesehen zu werden. Die ganze Anmut ihrer Gegenwart stammt aus einer eigentümlichen Abwesenheit. Da ist keiner, der so präsent ist wie sie, die nicht dazu gehört. Und die, kaum dass der Beobachter sich für einen Augenblick abgewendet hat, schon im Pulk der Aussteigenden verschwunden ist. Ein Engel, der wie alle diese Vorboten des Himmels immer nur kurz zu Besuch zu kommt.

Das Versprechen der Gegenwart

Die Gegenwart der Liebe ist das Versprechen, eine gemeinsame Zukunft zu haben. Und sie ist das Talent, der Vergangenheit der Liebe zu verzeihen, wo sie das nicht geglaubt hat.

Licht der Wahrheit

Das Licht, so die alte Metapher, ist das Medium der Wahrheit. Aufklärung und Geisteshelle, Deutlichkeit und Verstandesschärfe verdanken sich der Anstrengung, das Dunkel einer Sache intensiv zu beleuchten. Doch wo Licht ist, da auch Schatten. Und der schenkt – jeder Architekt sollte es wissen, auch wenn die vielen Glasfassaden vermuten lassen, dass er es vergessen hat  – Intimität und Diskretion. Was also sagt das über die Qualität einer Wahrheit, die sich zum Ideal die Durchsicht erkoren hat? Dass sie von sich aus zur Geschwätzigkeit neigt und der Verrat ihr näher steht, als es der Sache lieb sein kann. Vom Niveau, einer der Hauptbegriffe des Denkens zu sein, fällt sie nur nicht herunter, wenn sie die starke Unterscheidung zwischen Faktum, das offenkundig ist, und Geheimnis, das sich offenbart, nicht einebnet.

Text und Autor

Es gibt Worte, die so stark sind, so eingängig, so selbstverständlich und dennoch zuvor nie ausgesprochen, dass sie sich von ihrem Urheber lösen, kaum dass sie öffentlich werden. Solche Texte suchen sich ihren Autor, weil der Autor, der sie geschrieben hat, nicht stark genug gewesen zu sein scheint, die Beziehung zu ihnen zu halten. Eine liebe Freundin schickt ein Gedicht von Joseph Beuys als Weihnachts- und Gruß zum Jahreswechsel, ein beschwörendes Stück voll schönster Lebensklugheiten und Allerweltsweisheiten. Nur dass es nicht vom berühmten Künstler stammt, wie in der Unterzeile behauptet, sondern von Susan Ariel Rainbow Kennedy, genannt: SARK, die es als Poster gestaltete und die in San Francisco als Schriftstellerin, vor allem aber als Expertin arbeitet fürs persönliche Wohlgefühl. Im Original heißt es „How to be an artist“; unter dem Namen „Beuys“ firmiert es als „Anleitung zum guten Leben“. Es geht so: Weiterlesen

Tempolimit

Es ist nicht ausgemacht, ob das immer höhere Tempo, mit dem wir durch die Welt reisen, uns den Menschen vor Ort näher bringt. Aber unzweifelhaft ist, dass es den Menschen, der viel reist, von sich selbst immer weiter entfernt.

Ach ne

Der wohl bedeutendste Theologe des zwanzigsten Jahrhunderts, Karl Barth, ein Vielschreiber, dessen „Kirchliche Dogmatik“ allein mehr als neuntausend Druckseiten enthält, wurde gefragt, wie sich zusammenfassen lasse, was über Gott zu sagen sei. Nach kurzer Bedenkzeit soll er geantwortet haben: „Ach ja“. Man muss – kann aber auch – hermeneutisch feinnervig genug sein, um im Stoßseufzer des frommen Basler Vielgelehrten die List der Wortgewandtheit und des Wortreichtums zu entdecken, die auch in der knappen Äußerung stets zu denken geben will. Alles sei Zustimmung in Gott, so die als Formel ausgelegte Interjektion, allerdings eine trotzige, die zugleich den realistischen Blick nicht verdrängt, der sub specie aeternitatis angesichts der irdischen Zustände nur ein stöhnendes Kopfschütteln zulässt.

Besinnungslosigkeit

Wäre Gott so besinnlich gewesen, wie wir Menschen es zur Adventszeit und an den Weihnachtstagen als angemessene Lebenshaltung ansehen, es hätte nie Anlass gegeben, das Fest zu feiern. Die Nachricht von der Geburt des Sohns erzählt von der Hingabe und Zuwendung des Weltenherrn und ist alles andere als eine exklusive Familienidylle. Fremde werden beschenkt, und Fremde schenken, damit sie es nicht mehr bleiben. Alles ist angelegt auf Offenheit, handelt von weit ausgebreiteten Armen, von zeiterschütternden Irritationen, weniger von Andacht oder der fragilen Verwandtenseligkeit. Und die Geschichte zielt kaum auf Innerlichkeit, sondern auf Entäußerung.

Redefluss

Es gibt Menschen, denen die Worte in einem Fort auf die Zunge stürzen, so dass sie Mühe haben, daraus schnell einen Satz zu bilden. Und denen die Sätze aus dem Mund quillen, als hätte man einen prallen Apfel angestochen, so dass es schwer ist zu folgen, was sie sagen wollen. Und deren Urteile, eines nach dem anderen, gelegentlich im Selbstwiderspruch verhakt, schon vom nächsten verdrängt werden, so dass sie keinen Halt geben. Und deren haltloses Gerede so sprachlos macht, dass man die Frage vergisst, ob dieser phonetischen Kaskade je ein Gedanke vorausgegangen war. Zum Dialog ist die Diarrhoe in der Rede nicht fähig.

Die Angst der Welt

Hinter der lapidaren Bemerkung, jedes Land habe die Regierung, die es verdient, steckt nicht nur die Resignation über Wahlergebnisse oder die Schwächen eines politischen Systems. Sondern das befremdliche Erstaunen, dass die Mehrheit derer, die entschieden haben, nicht besser wusste, was allen anderen offenkundig gewesen zu sein scheint. Und das ist in dieser Welt zu oft inzwischen die Einsicht, dass die Angst des Volks jene Kandidaten an die Macht hebt, die dann jeden Grund geben, dass das Volk Angst haben muss.

Fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker

Seit den frühen Tagen der wissenschaftlichen Überlieferung steht neben der Suche nach dem Stein der Weisen auch die nach einem Universalmedikament, dem Panazee, auf dem Programm der Forscher. Doch fündig ist niemand geworden bisher in seiner Anstrengung, und wohl keinem wird je gelingen, dem leichthin gesagten Ganzen, dem „Alles und Einen“, eine Arznei entsprechen zu lassen, die jede Krankheit überwindet. Sie müsste abstrakt und konkret gleichermaßen sind, und das im umfassenden Sinn. Noch am ehestem wird der Liebe dieses Potential zugetraut, sie könne jedes geringe Wehwehchen heilen und auch die großen pathologischen Geißeln der Menschheit erfolgreich bekämpfen, nicht nur als Seelenheilmittel. Das mag damit zusammenhängen, dass sie das Persönlichste mit dem Allgemeinsten verbindet. Sie ist, mit Alfred Polgar zu sprechen, „ein privates Weltereignis“ – deren therapeutische Wirksamkeit wir vielleicht unterschätzen, weil sie nicht rezeptpflichtig verordnet und abgemessen verabreicht werden kann, sondern immer nur als Überdosis ins individuelle Leben tritt.

Zur Unzeit

Eine Gesellschaft, die gelernt hat, dass sie einen Großteil ihrer Stabilität gewinnt aus der Gewissheit, dass Grundformen ihrer Kommunikation funktionieren (Geldverkehr, Warentausch, Informationsfluss, Machtordnungen), muss dem Timing eine hohen Stellenwert beimessen. Die Trefferquote, mit der wir komplexe Situationen zum eigenen Nutzen auflösen, ist zugleich ein Glücksindikator. Nichts kann sie sich weniger erlauben als unterschiedliche Zeitmaße. Dabei verkümmert das Gespür für die eigene Zeit, das individuelle Tempo, die gelegentlich schöne Überraschung, nicht zur rechten Zeit am rechten Ort zu sein – und so den Richtigen vielleicht zu finden. Im Ideal der Überraschungsfreiheit verbirgt sich eine erstaunliche Portion an Lebensunlust, ja Lebensfeindlichkeit.

Gesprächsfaden

Zu den verblüffenden Besonderheiten einer tiefen Freundschaft gehört, dass auch nach Jahren der Entfernung keine Entfremdung eintritt und der Gesprächsfaden aufgenommen werden kann, als hätte man ihn vor Kurzem erst liegen gelassen. Es sind andere Themen, wohl wahr, aber derselbe vertraute Ton im Wortwechsel, die gleiche Erwartung an das Gegenüber, Fragen einzuschätzen und Urteile zu fällen. Obwohl sie nach Begegnungen verlangt, braucht eine solche Freundschaft keinen Ort des Zusammentreffens. In ihr ist das Abstrakte konkret und die Differenz zwischen Absenz und Anwesenheit aufgehoben. Distanz bedroht nicht die Nähe; Diskretion ist ihr oberstes Gebot. Ohne dass sie das einander versprechen, lässt sich diese Beziehung zwischen zweien mit Fug unverbrüchlich nennen. Es ist der Ort, an dem die Ewigkeit in der Zeit aufs Menschlichste ihren Platz hat.

Das Zeitalter des politischen Narzissmus

Vielleicht befreien die Auflösungserscheinungen des „Projekts“ Europa, der hakelige Abschied von England, die Provokationen durch Italien, das verweigernde Geraune in Ungarn, das kleinlaute Schweigen zu den französischen Unruhen, Europa vom Anspruch, ein „Projekt“ sein zu müssen. So lang politische Technokraten sich nicht einmal um den Sachverstand scheren, sondern Institutionen schaffen, um sich selbst zu versorgen, verstärkt der Narzissmus hier den Nationalismus dort, et vice versa. Erst wenn Europa sich als gemeinschaftsstiftende Idee wiederentdeckt, die nicht erst abstrakt beschworen werden muss, wenn der Gestaltungswille sich nicht findet, wird es, paradox zu sagen, betörend lebendig in seiner konkreten Wirklichkeit.

Die Welt in zwei Zeilen

In jeder Notiz* steckt die Verlegenheit, das Ganze nur als Fragment ausdrücken zu können, und die Verwegenheit, im Fragment ein Ganzes zu zeigen.

* In eigener Sache: Dies ist die zweitausendste Notiz. Seit Jahren versucht der Beobachter, täglich in Form zu bringen, was er gesehen hat. Das ist abhängig von seiner Tagesform mal launig, mal bissig, mal entdeckt, mal erfunden, mal mühevoll, mal leichtgängig, mal reflektiert, mal erzählt, wenig biographisch, oft literarisch. Er schreibt, manche Leser schreiben ihm zu. Alles ordnet sich ein dem nicht zuletzt philosophischen Willen, anschaulich begreifen zu wollen und zur Anschauung zu bringen, was man meint, begriffen zu haben. So dankt der Chronist seinen Rezipienten und Abonnenten. Und freute sich, wenn sie die täglichen Notizen weitertrügen und verbreiteten, sollte ihnen ein Text gefallen haben. Auf dass der Kreis der Leser wächst. Alle Stücke sind gesammelt im Archiv, unten auf der Website. Oder sie lassen sich über die Suchmaske, nach Themen und Stichwörtern sortiert, finden.  

Kerzenlicht

Im abendlichen Adventsgottesdienst. Der Kirchenraum ist nur von Kerzen erleuchtet, die dezent flackern. Das Auge muss sich an das stille Scheinen erst gewöhnen. Aber vor allem vernimmt der Besucher genauer, was gesagt wird, wenig abgelenkt von dem, was um ihn herum ist. Jeder Sinnesreiz beeinflusst die Wahrnehmung aller anderen Organe. Das Licht wirkt aufs Sehen und Hören. Je zurückgenommener die Beleuchtung, desto feiner dringt die Stimme ins Innere. Ein allzu heller Raum taugt nicht für ernste Gespräche und tiefe Empfindungen.

Sicher ist sicher

Wie aus den Zeiten, da die Religion für alles einstehen musste, was sich anders nicht erklären ließ und als Lückenfüller stets ein zeitlich befristetes Verhältnis zum Ort der Vakanz einnahm, mutet an, was im englischen Versicherungsrecht act of God heißt: alles, was sich der menschlichen Kontrolle entzieht, was unvorhergesehen als Naturgewalt, als Erdbeben, Tsunami, Wetterkatastrophe, über eine Region hereinbricht. Wo die Gelegenheit fehlt, jemanden verantwortlich zu machen, tritt symbolisch das Gotteshandeln ein, allerdings nicht so, dass sich daraus juristische Ansprüche, etwa eines Schadensersatzes, ableiten ließen. Im Gegenteil, statt Gnade vor Recht ergehen zu lassen, tritt die Ausnahme vom Vertrag in Kraft. Die Höhere Gewalt bekommt zwar einen Namen, aber der tröstet nicht, sondern taugt allenfalls als dürre Ausrede, für nichts einstehen zu müssen. Sinnfrei, also nicht einmal als strafendes Grollen zu deuten, bleibt der „Akt Gottes“ eine Leerformel und bietet Weiterlesen

Jenseits des Gewöhnlichen

Wer das Außergewöhnliche nur jenseits des Gewöhnlichen sucht, wird es kaum finden. Es ist die Überraschung im Alltag, der Zauber, der das Grau in Grau schön macht. Was metaphorisch das i-Tüpfelchen heißt, das als besondere Beifügung eine Sache aufwertet, die sonst nicht auffiele, befreit die Ausnahme von der Last, unerschwinglich und unerreichbar sein zu müssen. Es gibt dem scheinbar Unscheinbaren einen Anschein von magischer Kraft: den verblüffenden Effekt, dass Geringes den Unterschied im Ganzen ausmacht. Außergewöhnlich ist allerdings das Talent, jedesmal das Große im Kleinsten zu sehen.