Tag: 25. Dezember 2018

Gedankenexperiment

Was wäre, wenn die Kirche zur Weihnacht einmal alle Gotteshäuser geschlossen hielte? Was vermissten wir? Den Prediger, der sich, weil das Haus außergewöhnlich voll ist, in Szene setzt, als ginge es darum, die Gemüsereste vom städtischen Erzeugermarkt unter die letzten Passanten zu bringen? Den Banknachbarn, der seine Hände in den Hosentaschen tief vergraben hält, weil er zeigen will, wie widerspenstig er dem familiären Gruppenzwang zur heiligen Handlung gefolgt ist? Die schweren Düfte der Dame, die ihr neues Parfum gleich allzu dick aufgetragen hat? Vermissten wir Organist und Trompeter, die sich für ein paar Choräle hektisch zusammenraufen, einander kaum im Takt folgend, weil sie keine Zeit zum gemeinsamen Üben fanden? Die Verniedlichung einer ungeheuren Botschaft? Das Gebrabbel derer, die sich für nichts interessieren außer für sich selbst? „Macht zu, die Tor / die Tor macht dicht“, einmal könnten die Gemeinden doch diesem Ruf folgen und ihre Andachtsorte verriegeln. Was vermissten wir? Vielleicht bekämen viele eine verstörende Sehnsucht, die seltenen Besucher wie die Kirchenleute, eine brennende Sehnsucht nach einer Gelegenheit, sich dankbar zu zeigen, eine ansteckende Sehnsucht, anderen in fragilen Worten zu erzählen von den eigenen Erfahrungen mit einem Gott, der den Menschen annimmt, ohne Bedingungen zu stellen, eine unbestimmte Sehnsucht, die nicht weiß, was ihr fehlt, weil sie nicht einmal mehr sich gegen das stellen kann, was ihr fremd ist, eine verlegene Sehnsucht, die sich ihrer selbst schämt, eine beglückende Sehnsucht, welche die Kirchentüren nicht nur aufschließt, sondern die Herzen weit macht.*

* Der dänische Denker Sören Kierkegaard hat ein solches Gedankenexperiment einmal angestellt. In einer kleinen Anmerkung zur „Unwissenschaftlichen Nachschrift“ notiert er: „Wenn ein Mann den Mund so voll Essen hat, dass er aus dem Grunde nicht zum Essen kommen kann und es damit enden muss, dass er Hungers stirbt, besteht dann das Ihm-Speise-Mitteilen darin, dass man ihm den Mund noch voller stopft, oder nicht vielmehr darin, dass man dafür sorgt, etwas davon zu entfernen, damit er dazu kommen kann zu essen?“ – Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift zu den Philosophischen Brocken, Erster Teil, Gesammelte Werke 16. Abt., Düsseldorf/Köln 1957, 271 Anm.