Monat: September 2019

Schamlose Siege

Gerade jene Erfolge, die sich der Schwäche des Gegners verdanken, sollten zu nichts Anlass geben als zu Demut. Ein Wahlsieg, der kaum errungen wurde, sondern sich als Nebeneffekt ergeben hat, weil die Bürger andere Parteien abgestraft haben, kann eigentlich nur jene versteckte Scham auslösen, die heimlich weiß, dass alle zu denselben Schandtaten fähig wären, über die gerade das politische Urteil für einzelne vernichtend gefällt wurde.

Amtsenthebung, Amtserhebung

Seitdem der belgische Soziologe Daniel Warnotte im Jahr 1937 in einem Text über Bürokratie den stillschweigenden Übergriff von beruflichen Verfahren, Methoden oder Funktionen auf andere Lebenskontexte beschrieben hat, heißt diese Art der unmerklichen Machtergreifung, die sich bis in die Persönlichkeit erstrecken kann, déformation professionelle. Die Wendung ist ein Wortspiel. Als formation professionelle bezeichnet die französische Sprache die Ausbildung zu einem Beruf. Es gibt, sichtbar allenthalben in diesen Zeiten, auch jene umgekehrte Bedeutung dieser Deformation, in der eine Person die Aufgabe, die ihr anvertraut ist, instrumentalisiert für eigene Zwecke, und die weit größere Gefahr besteht, es könne das Amt elementar Schaden leiden. Zum Schutz vor dieser Entstellung haben die politischen Systeme Verfahren entwickelt, einem Einzelnen nicht zu erlauben, seine verliehene Macht zu missbrauchen: Das Amt erhebt sich zur Amtsenthebung.

Tauschgeschäft

Nichts liegt ferner als ein Meinungsaustausch, wenn die eigenen Anschauungen aus einer festen Überzeugung stammen. Was sollte man als adäquaten Gegenwert erhalten? Die prinzipienfreien Sichtweisen der anderen?

Futur zwei

Unter allen grammatikalischen Zeitformen ist das Futur zwei die anmaßendste. Wer so spricht, hat in Gedanken schon beschlossen, was in der Wirklichkeit vielleicht noch nicht einmal begonnen hatte. Die Vergangenheit ist in die Zukunft eingezogen; das Aufbrechen durch das Ende überformt. Als Inbegriff der Konsequenz behauptet die Logik versteckt, sich über die Sprache ins Leben setzen zu können: Sie meint, den Schluss zu kennen, weil sie die Bedingungen benennen kann, unter der eine Sache antritt. So öffnet sich das Futur zwei ungewollt für den Zynismus, der immer schon weiß, wie eine Geschichte ausgeht, und so ein vorgezogenes Urteil fällt, ob es lohnt, sie überhaupt erst anzufangen.

Wort und Wörter

Weil Worte mehr sind als die Wörter, die wir gebrauchen, können sie eine Welt verändern.

Schreibblockade

Die Schreibhemmnis ist die einzige Blockade, die durch einen Sitzstreik aufgehoben wird. Man muss nur warten, bis der Gedanke kommt, der sich nie ankündigt.

Das ganz Große und das große Ganze

Zu den bedeutenden Lernleistungen unserer Zeit wird vielleicht gehört haben, dass es dieser Generation erstmals gelingen mag, ein leidenschaftliches Gefühl zu entwickeln für das Abstrakte: eine künftige Menschheit, für die wir verantwortlich zeichnen, eine Welt, die wir nicht spüren, obwohl wir von ihr und in ihr leben, ein Klima, das sich kaum merklich, aber stetig und dramatisch ändert. Schon vor vierzig Jahren hat Hans Jonas die Ethik zur Bewegung „Fridays for Future“ geschrieben: „Nun gibt es aber noch einen ganz anderen Begriff von Verantwortung, der nicht die ex-post-facto Rechnung für das Getane, sondern die Determinierung des Zu-Tuenden betrifft; gemäß dem ich mich also verantwortlich fühle nicht primär für mein Verhalten und seine Folgen, sondern für die Sache, die auf mein Handeln Anspruch erhebt … Diese Art Verantwortung und Verantwortungsgefühl, nicht die formal-leere ,Verantwortlichkeit‘ jedes Täters für seine Tat, meinen wir, wenn wir von der heute fälligen Ethik der Zukunftsverantwortung sprechen.“*

* Das Prinzip Verantwortung, 174f.

Unmut, Mut, Übermut

Der Unmut zürnt: Unmöglich! Das alles!
Die Mutlosigkeit zaudert: Lass schauen, was möglich ist.
Der Mut zeigt: Was wirklich werden soll, muss man möglich machen.
Der Übermut zuckt: Nur das Unmögliche fordert wirklich.

Risikobewertung

Vor knapp hundert Jahren, 1921, veröffentlichte der Begründer der Chicagoer Schule, der Wirtschaftswissenschaftler Frank Hyneman Knight, eine Studie über das Verhältnis von Risiko und Profit.* In ihr stellt er die Unberechenbarkeit des Weltlaufs, die Unvorhersehbarkeit von Entscheidungen ins Zentrum des unternehmerischen Handelns. Erfolg hat der, der sich gegen den Irrtum der vielen anderen gestellt und seine Wette auf den Ausgang der Angelegenheit gewonnen hat. Das ist, was allzu oft den angehenden Lenkern, Managern, Führungskräften, Mächtigen unterschlagen wird: Der Preis der Überlegenheit ist die Einsamkeit.

* Risk, Uncertainty and Profit, New York 1964

Die Wissenschaft hat festgestellt

Zu den Grundvoraussetzungen von Wissenschaft gehört spätestens seit der Aufklärung, dass sie auch zu sich selbst ein skeptisches Verhältnis entwickelt hat. Wie aus der Zeit gefallen mutet daher an, wenn von Klimaaktivistinnen oder Weltrettern nun „die Wissenschaft“ als unzweifelhafter Kronzeuge und letzte Instanz angeführt wird, die als unerschütterliche Autorität für Handlungszwänge verantwortlich zeichnet. Jeden Wissenschaftler, der deswegen nicht gleich „Klimaleugner“ ist, muss diese Unbedarftheit wundern, wo er doch weiß, wie viele Wissenschaften höchst Unterschiedliches behaupten und es oft selbstkritisch revidieren müssen. Doch zugleich mag die Berufung auf „die Wissenschaft“ eines lehren: dass große (Gesellschafts-)Kritik sich auf jene Naivität gründen muss, die von der Vorstellung beseelt ist, dass sich durch eigenes Zutun im Ganzen etwas grundlegend ändern kann. Das Fundament des Zweifels ist die Gewissheit, nicht umgekehrt.

Wo ist der Wald?

Im Dickicht von Verordnungen und Vorschriften, Paragrafen und Rechthaberei bleibt vor allem eines stecken: die Fähigkeit, sich im Ganzen und über das Ganze orientieren zu können. Es gilt die schlichte Korrelation: Je größer das Regelwerk, desto kleiner die Perspektive. Der Anarchist gilt zwar im Dschungel der Gesetze als die freieste Figur und tritt als Gegenbild auf wider die Verwirrung der Handlungschancen. Als Normsetzer in eigener Sache und Ignorant bestehender Verhältnisse schafft er aber die gleiche Irritation. Groß denken bedeutet nicht, das Kleine zu verachten, sondern das Kleinliche zu vermeiden. Ob sich für die Welt ein Ausweg finden lässt zwischen den großen Koalitionen von Klimastreikenden und der Großen Koalition im Klimastreit?

Wartezeit

Nur Hoffnung und Zuversicht sorgen zuverlässig dafür, dass einer, der warten muss, darüber seine Lebendigkeit nicht verliert. Die vorgestellte Steigerung des Wartens zur Trostlosigkeit ergibt ein abschreckendes Bild dessen, was Hölle meint: Alle warten auf alle. Keiner kommt an. Das Dasein dort: Warten auf nichts, nichts als Warten. Lähmung, ohne Ende. Wer in langen Schlangen stehen muss, am Ticketschalter, beim Bahnservice, vor der besten Eisdiele der Stadt, durchlebt den Nihilismus einer Vorhölle, wenn das Erwartete, endlich am Ziel, dort nicht mehr verfügbar ist.

Kalte Berufe

Die scheinbare Kälte, die Managern, Richtern oder Anwälten, Literaturkritikern und den verantwortlichen Trainern im Sport zugeschrieben wird, hat schlicht den Grund, dass sie alle gezwungen sind, stets klare und unbestechliche Urteile zu fällen. Die nämlich werden am wirkungsvollsten eingetrübt durch Freundschaften und Kumpeleien, Nachsicht oder Sympathie, Empfindsamkeit und Empfindlichkeiten. So wird das, was sonst als Gefühllosigkeit in schlechtem Ruf steht, zum Ausweis von Professionalität.

Jetzt oder nie

Radikalität ist die Antwort auf das Gefühl, keine Zeit mehr zu haben. In der Verachtung des Lebens, des fremden, des eigenen, des sozialen, vollzieht sie ihre Atemlosigkeit: Selbst Luft zu holen, kostet zu viele Augenblicke. Ihren Hang zu Gewalt rechtfertigt sie mit der Notlage, die kürzesten und schnellsten Wege gehen zu müssen. Nichts erfüllt das Ideal der Effizienz so vollkommen wie der Absolutismus, der sich ins kompromisslose Handeln gezwungen sieht.

Zwang zum Einfall

Was im testamentarischen Mythos von der Weltentstehung das vielleicht unauffälligste, aber ein nicht unwesentliches Merkmal ist, lässt sich aus dem Tagesrhythmus erschließen, in dem er aufgebaut ist: sechs Mal fügt sich eine bestimmte Ordnung ein in die Entstehung eines Gesamtbilds. Der siebte Tag ist der Betrachtung vorbehalten. Es ist die Disziplin, der Zwang zum Einfall, der die Sache befördert. Jeden Tag ein neuer Gedanke, unabhängig von Launen, Umständen, Kraft. So entsteht das Werk. Nicht allein der Inhalt bereichert die Kreativität, sondern vor allem die Form nötigt ins Schöpferische.

Gefälligst

Kaum ein Besuch, ein Einkauf, eine Ferienmiete, die nicht zur Folge hätten, dass ein paar Tage später mit freundlichem Nachdruck die Aufforderung ergeht, die Sache zu beurteilen. Das Netz ist voll solcher nachgereichten Gefälligkeitsgutachten, die wiederum als Bewertungsdurchschnitt Neugierige lenken. In einer Anmerkung zum „Wohlgefallen“ hat Immanuel Kant die Qualität solcher Sätze genau beschrieben: „Ein Urteil über einen Gegenstand des Wohlgefallens kann ganz uninteressiert, aber doch sehr interessant sein, d.i. es gründet sich auf keinem Interesse, aber es bringt ein Interesse hervor.“* Sie stellen das Gegenteil dar zu jenen Äußerungen, die der überschäumenden Begeisterung entstammen, aber andere ob ihrer Absolutheit belästigen und kalt lassen, total interessiert, ganz und gar uninteressant. Was daraus zu folgern ist: nichts als die Souveränität der eigenen Neigungen, die niemanden angehen, keiner Begründung bedürfen, durch nichts sich beeinflussen lassen wollen. Und doch alles andere sind als subjektiv.

* Kritik der Urteilskraft, B 7 Anm.

Gewinn- und Verlustrechnung

Im Unterschied zur Finanzrechnung, in der der Ertrag eines Geschäfts sich aus der Differenz von Gewinn und Verlust präzise ergibt, lassen sich in einer Lebensbilanz Verluste oder Gewinn nicht eindeutig zuordnen. Wie hoch ist der Preis, den einer zahlen muss für seine Erfolge; wie groß ist die Ausbeute, der Vorteil, den einer erzielt aus seinen Niederlagen? Dass jeder Nutzen auch als Nachteil sinnvoll gedeutet werden kann, und umgekehrt, begründet allererst die Trostbedürftigkeit, aber auch Trostfähigkeit des Menschen.

Was noch nicht ist

Der größte Feind der Sehnsucht ist die Resignation. Zwischen sie haben sich der Glaube an die eigene Kraft, die Hoffnung auf ein gutes Ende und die Liebe zur Sache wie Wächter gesetzt.

Verbotverbotsgesetz

Es stimmt schon: „Es gibt kein großes Glück ohne große Verbote.“* Woraus sich aber nicht schließen lässt, dass den kleinen oder gar kleinlichen Verboten das kleine Glück folgt. Große Verbote sollen ermöglichen. Kleine Verbote hingegen – wie die geforderten Verbote von Luftballons, von SUVs in den Städten, der Erstattung der Homöopathie durch Krankenkassen, von Elektrorollern, Ölheizungen, Inlandsflügen und des Zutritts in Wälder während sommerlicher Hitzewellen – spiegeln ein Denken wider, dem die Vorstellungskraft abhanden gekommen ist. Statt sich als Kunst des Möglichen (Bismarck) selbstbewusst zu zeigen, setzt die Politik ihre unternehmerische Kraft in einen Wettbewerb ums Verhindern. So macht sie vieles unmöglich, nicht zuletzt: sich. Das aber ist keine Kunst.

* Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften 2, 503

Knapp unter der Fallhöhe

Politische Glaubwürdigkeit verdient sich der, der in den großen Fragen dieser Welt sich knapp unterhalb der Fallhöhe bewegt. Statt um Gerechtigkeit könnte er kämpfen für den Ausgleich. Statt sich an Wahrheit messen zu lassen, genügte es, sich um Wahrhaftigkeit zu bemühen. Statt Glück zu beschwören, reichte es, für Bedingungen zu sorgen, die allen Anlass geben, mit ihnen zufrieden zu sein. Statt zu sagen, was gut heißt, ließe sich mehr erreichen mit dem, was besser ist als der Status quo. Die großen Wörter sind erfunden für große Notlagen. In den Zwischenzeiten geben sie nur der Enttäuschung Heimat.

Phantastisch

Der Realist sagt: Die Phantasie hat die Aufgabe, uns vor allzu großen Überraschungen in der Wirklichkeit zu bewahren. Sie spielt die Zukunft schon bildhaft durch, bevor sie eintritt.
Der Optimist sagt: In der Phantasie schützt sich die Unbedarftheit der Vernunft vor den Zumutungen der Welt, damit das Denken probehalber ins Leben setzen kann, was sich später als dessen Verbesserung herausstellt, sobald die Zeit nach neuen Formen verlangt.
Der Pessimist sagt: Zum Glück gibt es die Phantasie als den Raum, in dem all die Erfindungen des Menschen störungsfrei, aber wirkungslos untergebracht werden können, die sich schon anschickten, in der Realität Schaden anzurichten. Die Phantasie grenzt das Dasein ab von den Überbeanspruchungen und Belastungen durch den Verstand.

Sprachscham

Mit dem Mangel an Wörtern ist eine gar nicht selten auftretende Scham verbunden. Bei Beerdigungen ist sie zu beobachten, wenn Trostsätze nicht recht passen. Oder im Liebesgeständnis, der Schilderung von Begeisterung oder Entsetzen. Unfassbar, unsäglich, krass, ohne Worte, Wahnsinn. Das sind solche Verlegenheitsausdrücke. Wenn die Welt zu groß ist für die Wörter und ein verschlossener Mund als teilnahmslos, unhöflich, desinteressiert betrachtet würde, setzt unbeholfenes Stammeln ein. Gibt es eine Pflicht zu sprechen, die auch jenseits des größten Wortschatzes noch Ansprüche erhebt? In der Dichtung ist sie ein Antrieb. Bei Wort-Neuschöpfungen, in der Werbung oder im Slang, mag sie hintergründig wirken. Vielleicht verweist diese Scham, die rechte Form nicht zu finden, aber vor allem auf jene letzte Freiheit, schweigen zu können, ohne verstummen zu müssen, aus der heraus jedes Wort überhaupt erst seinen Sinn erfährt. Es enthält seinen vollen Gehalt, weil es hätte auch nicht gesagt werden können. Die Sprachscham äußert die Empfindung, der Bedeutung einer Situation nicht gerecht geworden zu sein, im Wissen, dass dafür Worte verantwortlich sind.

Glaube, Hoffnung, Liebe

„… diese drei“: Zu den am meisten zitierten und bekanntesten Worten aus dem Testament gehört das über Glaube, Hoffnung und Liebe, von denen die Liebe die größte sei (1. Kor. 13, 13). Aber die größte worin? Es lohnt, nach der Rolle des Subjekts in diesen Haltungen zu suchen. Sie repräsentieren eine Steigerung vom Ich zum Wir. Der Glaube, auch wenn er in Gemeinschaft gelebt werden will, fordert die Entschiedenheit des Einzelnen. Jeder, der auf Zuversicht setzt, weiß, wie anstrengend Erwartungen gegen Widerstände sind. „Ohne Kraft eines Ich und Wir dahinter wird selbst das Hoffen fade.“* Und eine Liebe, die nicht erwidert wird, verkümmert in der Regel. Sie ist die größte auch in der Einsamkeit, wenn das Ich mit sich selbst bleibt.

Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, 167

Nimm zwei

In einem Wahlverfahren (wie dem zum SPD-Vorsitz) wirkt die Präsentation von Doppelspitzen verzagt. Als setzte man dem scharfen Entweder-Oder bei einer Abstimmung ein milderndes Und entgegen, so dass man zum Trost für den Ausschluss so vieler Kandidaten immerhin gleich zwei Sieger bekommt. Die Repräsentationsfläche wird vergrößert. Ist das gerechter (zwei Alter, zwei Geschlechter, zwei Landesverbände, zwei Konfessionen, zwei Charaktere, zwei politische Richtungen?) oder bloß die Wiederholung der Unentschlossenheit in der Entscheidung?