Tag: 9. September 2019

Sprachscham

Mit dem Mangel an Wörtern ist eine gar nicht selten auftretende Scham verbunden. Bei Beerdigungen ist sie zu beobachten, wenn Trostsätze nicht recht passen. Oder im Liebesgeständnis, der Schilderung von Begeisterung oder Entsetzen. Unfassbar, unsäglich, krass, ohne Worte, Wahnsinn. Das sind solche Verlegenheitsausdrücke. Wenn die Welt zu groß ist für die Wörter und ein verschlossener Mund als teilnahmslos, unhöflich, desinteressiert betrachtet würde, setzt unbeholfenes Stammeln ein. Gibt es eine Pflicht zu sprechen, die auch jenseits des größten Wortschatzes noch Ansprüche erhebt? In der Dichtung ist sie ein Antrieb. Bei Wort-Neuschöpfungen, in der Werbung oder im Slang, mag sie hintergründig wirken. Vielleicht verweist diese Scham, die rechte Form nicht zu finden, aber vor allem auf jene letzte Freiheit, schweigen zu können, ohne verstummen zu müssen, aus der heraus jedes Wort überhaupt erst seinen Sinn erfährt. Es enthält seinen vollen Gehalt, weil es hätte auch nicht gesagt werden können. Die Sprachscham äußert die Empfindung, der Bedeutung einer Situation nicht gerecht geworden zu sein, im Wissen, dass dafür Worte verantwortlich sind.