Tag: 31. Oktober 2019

Gnade

Das Hauptwort der Reformation, deren Gedenktag wir heute begehen, Gnade, hat in einer quantifizierten Leistungsgesellschaft eher den Beiklang einer Demütigung denn einer Befreiung. Wo Gnade vor Recht ergeht, spielt einer seine mächtige Überlegenheit aus, die ihn veranlasst, ein Zeichen seines Könnens zu demonstrieren, weil ein anderer nichts mehr, nicht einmal für sich, tun kann. Aussichtslosigkeit ist der Gegenbegriff zu Gnade, nicht Recht. Das hat Paulus, auf den Luther sich beruft, gemeint, als er im Römerbrief konstatiert, keiner könne sich entschuldigen (Röm 3, 9ff.) Das ist der wesentliche, zugleich der problematische Punkt: Vor die Gnade ist zwar nicht das Recht gesetzt, aber das Eingeständnis, dass es Verhältnisse gibt, in denen nicht gilt, was sonst überall gilt: wer wir sind und was wir können. Und dass das gut so ist, weil nur so eine neue Perspektive sich erschließt.