Monat: November 2019

Dumpf, dreist

Gegen jene unerträgliche Dummheit, die sich in der Macht verbirgt, hat sich eine widerwärtige Dumpfheit gesetzt, die aus dem Gefühl der Ohnmacht herausgequollen ist. Beide verbindet mehr, als es der Anschein verrät: Sie lassen sich nicht mehr berühren, überspielen hier als Arroganz die Einwände der Realität oder unterlaufen dort als Ressentiment die ehrliche Anstrengung, Wirklichkeiten zu verändern.

Widerworte der Wahrheit

Die wirksamste Weise, Wahrheit nicht hören zu müssen, ist: unablässig zu reden. Das ist das Gefährliche am Schweigen, dass es Raum schafft für Einsichten, die schmerzen. Im Grunde ist die Psychoanalyse selber jene Verdrängungsstrategie, als deren Entlarvung sie sich ausgibt. Ihre peinlichste Illusion besteht darin zu meinen, es genüge, den Klienten über lange Zeit sprechen zu lassen, ohne dass ihm erwidert wird. Der Arzt sitzt arrogant im Hintergrund und übernimmt die folgenlose Rolle eines Sekretärs für die Seele, die ihm zu Protokoll gibt, was sie beschäftigt. In solchen Sitzungen erfährt der Patient leidvoll allenfalls seine Einsamkeit, nie jenes Widerwort, das ihn erwachen lässt.

Disharmonie und Demokratie

Man sollte keinen Streit vom Zaun brechen, solange man nicht weiß, nach welchen Grundsätzen er entschieden wird. Die wiedererwachte Lust an der Auseinandersetzung bleibt ein belangloser Austausch von Meinungen mit Spaltungsfolgen, wenn nicht wechselseitig die zwingende Kraft des besseren Arguments anerkannt wird. Im Idealfall steht am Ende der Debatte die Versöhnung von Kontrahenten, die beide einander beglückt eingestehen, dass sie durch den Widerspruch des anderen zu stärkeren Einsichten gefunden haben.

Arbeitsbeschaffungsmaßnahme

Viele, die als Leiter oder Führungskräfte, Behördenlenker, Dekane und Unternehmenschefs eingesetzt sind, sehen ihre Aufgabe darin, für andere Arbeit zu schaffen, und erfüllen sie, indem sie anderen Arbeit machen.

Anatomie des Abschieds

Jede Entscheidung von Gewicht gelingt in dem Maße, wie sie ergreift, was hinter ihr liegt, und ergriffen ist von dem, was ihr voraus ist. Die Kunst, sich so zu verabschieden, dass der Entschluss als letzte Form der Befreiung erfahren wird, lässt sich allzu gern korrumpieren von Beharrungskräften wie Gewohnheit, Angst, Treue, Trägheit, und hängt in ihrer Qualität nicht zuletzt ab von den Attraktionskräften einer neuen Perspektive. Das Leben ist eine Abfolge von Abschieden; dessen Lebendigkeit zeigt sich weder in versonnener Erinnerung noch im gewaltsamen Verdrängen dessen, was man zurückgelassen hat, sondern in einem Schatz an Erfahrungen, deren Belastbarkeit es zu erproben gilt. Ein Abschiedsgewinn könnte der Zuwachs an Wachheit und Unterscheidungsklarheit sein. Rilke hat im XIII. Stück der „Sonette an Orpheus“ gefordert: „Sei allem Abschied voran, als wäre er hinter / dir …“* Es ließe sich mit Fug die Zeile wenden: Nimm allen Abschied mit, sonst hast du nichts vor dir.

* Sämtliche Werke, Bd. 1, 759

Großer Dank

Der größte Dank gebührt jenem wertvollsten Geschenk, mit dem einer nicht etwas gibt, sondern sich selbst. Es ist die Unerträglichkeit, die damit stets verbunden ist, welche immer wieder zum größten Missverhältnis Anlass gibt: der bedenklichen Annahme, diese einzigartige Zuwendung als selbstverständlich zu nehmen.