Tag: 28. Dezember 2019

Recht und Gerechtigkeit

Kein Gesetz ist so umfangreich, unmäßig, unverständlich wie das deutsche Steuerrecht. Hundert Jahre alt, es erwuchs aus der Not eines immensen Schuldenbergs und der erwarteten Reparationszahlungen nach dem Ersten Weltkrieg, ist sein Jubiläum eher verlegen begangen worden. Als im Dezember 1919 die Reichsabgabenordnung parlamentarisch verabschiedet wurde, betrug das errechnete Maß an Geldmitteln jährlich das Zehnfache gegenüber der Zeit vor dem Kriegsausbruch. Das finanzielle Loch des Staats musste gestopft, aber der Zusammenhalt der Gesellschaft durfte nicht gefährdet werden. So hatte der Jurist Enno Becker einen Entwurf vorgelegt, der „aus der Luft, aus dem Nichts“ gegriffen war, wie er anmerkte. Und dessen Ziel, neben dem Zwang, enorme Einnahmen für den Staat zu generieren, der Versuch war, einen Ausgleich zwischen den Interessen der Einzelnen zu schaffen. Es sollte keinem tiefes Unrecht geschehen. Die Idee ist löblich, aber die Erfahrung mit ihrer Übersetzung ins Recht bedenklich. Denn ein Jahrhundert überbordender Gesetzesänderungen, von ungezählten Erweiterungen oder subtilen Ergänzungen des Grundtextes lehrt auch, dass nichts ungerechter zu sein scheint als das Bemühen, es jedem recht zu machen.