Monat: Januar 2020

Mehr Gestaltung, weniger Design

Vielleicht ist die kaum noch gebrauchte „Mutwilligkeit“ das rechte Wort, um den Unterschied zu bezeichnen zwischen Gestaltung und Design. Wo dieses dem Material eine formvollendete Vorstellung forsch aufzwingt, achtet jene mehr auf Entsprechungen, auf eine klare, aber zurückhaltende Linienführung, hält sich ersichtlich an Sachlichkeit. Das Design paktiert mit der Idee des Konstruktivismus, die Gestaltung lehnt sich noch an der Metaphysik an, denn sie glaubt, aus den Dingen ein angemessenes Wesen – wenn schon nicht herausarbeiten, so doch – hervorlocken zu können.

Kunst des Möglichen

Am meisten schadet der Staat sich selbst, wenn die Regierung das Volk nicht ernst nimmt im Willen, souverän zu sein. Ein verirrtes Machtbewusstsein, das dem Bürger Schutz angedeihen lässt über Verordnungen dort, wo er sich selber helfen kann (als Verbraucher vor den mächtigen Konzernen, als Anleger vor dem verderblichen Spekulationstrieb, als Mieter vor den nimmersatten Immobilienhaien), und das ihn infantilisiert, lässt ihn allein, wenn der Aufbruch in ungekannte Formen des Wirtschaftens, der Energieversorgung, des Zusammenlebens, seiner Bewegungsfreiheit oder Maschinenabhängigkeit Unterstützung nötig macht.

Wie lebendig ist das Ungelebte?

Manchmal liest sich das Leben eines Menschen, als sei es nichts als der kritische Kommentar zu seinem ungelebten Leben.

Das Runde muss ins Eckige

So genau wie Nikolaus von Cues hat keiner die Faszination beschrieben, die von einer Kugel ausgeht: als makellose geometrische Figur ist sie, die selbst perfekt bemessen ist, unkalkulierbar, sobald sie ins Rollen gebracht wird und auf unterschiedlichen Böden sich bewegt, sanft oder kraftvoll angestoßen, von Wind und Wetter auf überraschende Bahnen gelenkt. „Es ist nicht möglich, dass etwas zweimal in der gleichen Weise geschieht.“* Nichts ist so unberechenbar wie das vollkommen Berechnete, sobald es ins Spiel gerät. Was dem Cusaner zur Gottesanschauung taugte, der eine andächtige Lust entwickelt hatte, immer wieder neue Vorstellungen für den Zusammenfall des Gegensätzlichen zu erfinden, kennzeichnet den Zufall: Er herrscht dort, wo das Absolute auf Widerstände trifft. – Kann es eine schönere Herleitung geben für das, was den Fußball so anziehend macht und als Lebensmetapher taugen lässt? Und warum er alles andere ist als grob und brutal, einfältig oder plump? „Ich meine, dass es kein anständiges Spiel gibt, das ganz ohne den Gehalt geistiger Übung ist.“**

* Gespräch über das Globusspiel, n. 6
** n. 2

 

 

Im Strudel der Geschäftigkeit

Entwicklung ist jene Form der Veränderung, die sich erinnert und einen Zweck erfüllt. Sie behält im Gedächtnis, woher sie kommt, und verliert nicht aus den Augen, wohin sie strebt. So manche Geschichte lässt sich fugenfrei nur erzählen, weil der Wandel, der ihr zugrundeliegt, eine klare Richtung bekommen hat. Ohne Orientierung, zu der eine Perspektive genau so gehört wie eine Retrospektive, geraten Erneuerungen schnell in den Strudel selbstgenügsamer Geschäftigkeit.

Wohin mit der Sehnsucht?

In jeder glücklichen Liebe verbirgt sich ein Verlangen nach dem Unerfüllten. Es ist die Sehnsucht nach einem Menschen, wie er war, bevor man die Beziehung mit ihm eingegangen ist. Nicht dass zwischenzeitlich die Enttäuschung überhand genommen hätte. Nein, der Wunsch hat sich nur verdoppelt, als Begehren nach der frühen Begierde ist er lebendig geblieben und hält die Beziehung über diese zwiefache Neigung fest. Die Liebe hat begonnen, sich selber zu lieben um der Liebe willen, die sie zu einem Anderen gefunden hat.

Witzlos

Geschichten, die man zu oft erzählt, verlieren ihre Pointe. Weil man sie selber nicht mehr hören kann, geben sie auch nicht mehr zu Gehör, was ihr springender Punkt ist. Was das über den Kern der Angelegenheit sagt? Der Witz gehört weder ganz zur Sache, noch bildet er sich erst in deren Schilderung. Er nutzt vielmehr den Zwischenraum, der sich öffnet, wenn zum Erlebnis die Darstellung und das Publikum sich finden, so dass die Neugier zu erfahren lustvoll befriedigt wird vom gekonnten Spiel mit der Übertreibung.

Gedankenlose Gegenwart

Die Gegenwart ist gedankenlos. Was unmittelbar ins Auge fällt, mit Händen zu greifen ist, lässt sich nicht reflektieren. Zum Deuten gehört die Distanz, zum Begreifen der Befund. „Wie denken ohne Abwesenheit?“, fragt die Figur der Lust in den Fragmenten zu einem „Faust III“, die Paul Valéry hinterlassen hat.* Erst im Abstand kann aus einem Denken an ein Denken über werden, das all das, was nicht, noch nicht oder nicht mehr da ist, in die Präsenz des Bewusstseins holt. Worum die starke Begierde angesichts des Gegenstands ihres Verlangens sich bemüht, die Sache sich mit aller Kraft einzuverleiben, den Geliebten zu genießen, das leistet das Denken auf den verzweigten Umwegen der Vorstellung: Es wendet sich vom Drängen der Wirklichkeit ab, um eine Idee zu entwickeln, die dann in die Wirklichkeit drängen mag.

* Werke. Frankfurter Ausgabe, Bd. 2, 361

Schocktherapie

Um schleichende Krisen zu erkennen, bedarf es der Phantasie und des Vorausblicks. Da helfen auch eindringliche Worte der Weit- und Einsichtigen wenig. Das Reden entlastet vielmehr vom Mangel an Handlung; man hat getan, was man tun konnte, um zu einem Tun anzustiften, das mehr sein muss als das, was man getan hat. Die Handlung, sofern sie überhaupt erkennbar ist, wirkt wiederum wie ein blasser Ersatz der Haltung, die eingefordert ist, aber nicht erzwungen werden kann. Der Haltung fehlt die Perspektive. Es sind allenfalls Bilder, die da helfen: Filme, die als schockierende Katastrophenstreifen nicht vom Besuch der Außerirdischen erzählen, sondern zeigen, wie sich der Mensch zu einem Alien auf diesem Planeten entwickelt hat, Romane, die scharf und lebendig beschreiben, was es bedeutet, im Eigenen fremd zu sein. Die Rettung der Lebenswelt wird zur Aufgabe der Kunst.

Machtmissbrauch

Die Macht steht in schlechtem Ruf, weil die meisten, die nach ihr streben, sie zwingend brauchen, um sich selbst aufzuwerten. Sie gewinnen Größe allein, indem sie andere klein halten. Einmal an der Spitze geht es ihnen um wenig mehr als die eigenen Interessen. Bedeutung erlangt zu haben, ohne über Herrschaftsgewalt zu verfügen, sollte daher schon um der verführerischen Kräfte willen, die Macht auf alle Narzissten und Größenwahnsinnige, Kontrollfreaks oder verbissene Perfektionisten ausübt, eine unbedingte Voraussetzung sein, Führung zu verleihen. Für andere einstehen zu können, ohne von sich selbst absehen zu müssen: das ist die schlichteste Beschreibung von Autorität.

Was ist Liebe?

„Was spürst du?“
„Freundschaft. Aber nicht Liebe.“
„Und sonst?“
„Ja, Geborgenheit, Verlangen und Körperlust, Hilfe, Sehnsucht, eine Art Zuhause, Gelassenheit, vielleicht auch Glück, Kraft oder Entschlossenheit, Stille und Sanftmut. Aber nicht Liebe.“
„Und wenn du das alles zusammennimmst? Wie nennst du das?“
„Das wäre, so betrachtet, wohl ein großes Gefühl. Aber nicht Liebe.“
„Was ist es dann, wenn dies und noch viel mehr nicht die Liebe ergeben?“
„Das alles? Und noch viel mehr? Aber die Liebe fehlt?“
„Ja.“
„Ich nenne es Einsamkeit.“

Mutterliebe, Vaterliebe

Gelegentlich erfasst, beim Blick auf die eigenen Gewohnheiten, einen der Schrecken, dass die Gesten der Mutter oder die Marotten des Vaters sich über den Generationswechsel hin unwillkürlich erhalten haben. Eine Redensart, der Tonfall, spezifische Reaktionsmuster oder sonderbare Neigungen, sie alle geben Anlass zu vermuten, dass das, was man von den Altvorderen gelernt hat, nicht immer identisch mit dem, was sie mit Mühen gelehrt haben. Dabei ist die wichtigste Hinterlassenschaft der Eltern, verstehen zu geben, was das bedeutet – jene Liebe, die einem Kind Lust macht und Zuversicht schenkt, später selber Mutter oder Vater zu sein.

Länger leben

Das Geheimnis langen, zufriedenen Lebens? Eine solide Eitelkeit bis ins hohe Alter.

Nicht vergessen

Ein System, das nichts vergisst, bewahrt nicht das Leben, sondern sorgt dafür, dass es seine Lebendigkeit verliert. Nichts ist unerträglicher, als Menschen zu begegnen, die als eifrige Protokollanten des Alltags aus der Erinnerung wuchtige Worte hervorkramen, die einst leichthin gesprochen wurden und nun als schwerwiegender Vorhalt den Mangel an Verlässlichkeit spiegeln. So auch Gesetzestexte und Vorschriften, die über eine lange Zeit angehäuft sind und schon ob ihrer Überfülle für jeden Anlass die passende Regel anbieten. Sie verhindern, dass ein Handeln unbedarft gelingt oder unbescholten bleibt. Ein World Wide Web, das alles aufhebt, wird irgendwann zur größten Gefahr für den heiteren Fortgang des Menschlichen, schlicht aufgrund der abgründigen Tiefe seiner Materialsammlung. Was tun? Bis auf Grundformen, die Artikel des Grundgesetzes etwa, sollte allen Erlässen ein Verfallsdatum eingeschrieben sein, das zwingt, deren Notwendigkeit und Aktualität regelmäßig zu prüfen und von Fall zu Fall zu erneuern. Man müsste den Ballast gar nicht erst mühsam entsorgen, wenn er sich selber abschafft.

Die schweigende Mehrheit

Schweigende Mehrheiten bilden sich weniger aus Mangel an Mut, sondern meist dort, wo zwischen Denken und Handeln eine breite Kluft vorherrscht. Sie verhindert, dass Worte ohne Folgen genügten oder Taten zuverlässig begründet werden könnten. In der Verlegenheit, wider bessere Einsicht sich nicht zu bewegen, wenn Entschlossenheit und Engagement unbedingt verlangt sind, entzieht der Mensch seine Dissonanz der Sichtbarkeit. Die Vieldeutigkeit, die das Verstummen zulässt, nützt ihm, weil er so seine Inkonsequenz nicht auflösen muss. Immer lässt sich, jenseits des Nichtssagenden des Nichtsagens, die fehlende Artikulation interpretieren als heimliche Zustimmung oder als trotziger Ausdruck der Ablehnung, zuletzt als Spiel mit der Ratlosigkeit der Erwartung. Was soll man auch sprechen, wenn man nichts äußern könnte als den eigenen Zwiespalt.

Am Anfang

Alles hat einen Anfang, auch wenn wir ihn nie zu fassen bekommen. Im Nachhinein, vielleicht, lässt sich sagen, wann eine Geschichte begonnen hat, wie ein Ding in die Welt gekommen ist. Weil im ersten Augenblick zwar alles schon ist, was später werden soll; aber auch noch nichts bedeutet, da es sich erst zeigen wird. Anfänge sind flüchtige Annahmen. Es ist nicht möglich bei ihnen zu verweilen oder zu ihnen gar zurückzukehren. Das alles wusste Otto Piene, einer der Künstler, die in den Sechziger Jahren die Künstlergruppe ZERO gegründet hatten. Er schrieb über den Ursprung: „Zero ist die unmessbare Zone, in der ein alter Zustand in einen unbekannten neuen übergeht.“* Der in der Zeit damals populäre Countdown bei einem Raketenstart galt als Vorbild für den Umschlag ins höchste Risiko, den Aufbruch in die absolute Ungewissheit. Nicht zufällig spricht Piene von einer „Zone des Schweigens“, einem Moment, in dem alles Eigene, die Erwartungen und Pläne, der Ehrgeiz oder die Sorge, zurückzuhalten sind. Der Nullpunkt ist der gedachte Ort, an dem die Sache selbst ungestört sprechen kann.

The Times Literary Supplement, 3. September 1964

Klasse

Missverständlich ist das Wort „klassisch“ immer dann, wenn es gebraucht wird als Synonym fürs Altertümliche. Im Gegenteil meint ein klassisches Design oder eine klassische Schönheit jene Eleganz, die die Zeiten nicht nur überdauert hat, sondern zu allen Zeiten, das ist die große Kunst, Avantgarde sind. Klassisch, das ist der Name für das, was sich nicht mehr übertreffen lässt.

Die Moral von der Geschicht’

Wer liebt, braucht keine Moral. Er weiß, wie er handeln muss, damit sein Tun bestehen kann vor den Augen derer, die es angeht. So könnte ein Grundsatz lauten, der sich auf die Unterscheidung des Augustinus beruft, die, richtig zitiert, lautet: Dilige, et quod vis fac.* Was gerade nicht heißt: Liebe, und tu, was du willst. Der Satz erinnert vielmehr daran, dass der Ausgangspunkt jedes sinnvollen Agierens die Wertschätzung ist und bedeutet: Achte hoch, und wie zu handeln du dir aus dieser Haltung vornimmst, so fange es an. Es ist dieses „kurze Gebot“, von dem der Kirchenahn meint, es sei „ein für allemal“ aufgestellt als das, worüber hinaus mehr zu wissen nicht lohnt, eine Art früher kategorischer Imperativ, der alle Moralfragen, die für groß und wichtig erklärt werden, sehr klein erscheinen lassen.**

* Kommentar zum 1. Johannesbrief, 7, 8
** Sich dieses Prinzips zu entsinnen, täten auch die Kirchenoberen sich einen Gefallen, das alle leidigen Gestaltungsthemen wie das, ob das Priesteramt ein zölibatäres Leben fordere, einhegt. Was das Frohe an der frohen Botschaft ist, erschließt sich erst aus dem „kurzen Gebot“; was die Botschaft ist, die ein Leben fröhlich machen kann, ergibt sich, wenn man nichts weiter, dieses aber genau beachtet 

Dramaturgie der Freundschaft

Unter allen Vorzügen, die eine veritable Freundschaft mit sich bringt, gehört die beiläufige Talentförderung zu den beglückendsten. Wenn das Gespräch mit dem Vertrauten jedesmal sich unwillkürlich als Pointenfeuerwerk entwickelt, in dem ein Widerwort die nächste Lachsalve auslöst und dessen natürliche Dramaturgie selten erreichte Heiterkeitsniveaus erreicht, so wäre ein Protokoll der Szene für den späteren literarischen Genuss gewiss wünschenswert, vor allem aber abwegig. Denn die aufkeimende Frage darf nie gestellt werden, um das selbstverständliche Wechselspiel der anspruchsvollen Spitzen nicht zu gefährden: Wie geht das? Vieles von dem, was möglich ist, gelingt nur, weil wir nicht wissen, wie es wirklich wird.

Schönheit

In jedem Schönem ist ein Versprechen versteckt auf mehr als den kunstvollen Genuss. Es lockt den Betrachter aus der Rolle des Beobachters heraus. Verführt zum Anfassen hält er dann nicht selten in der Hand, was die Verheißung ihres Anscheins nicht erfüllt, was fragil und unfertig, hohl oder flüchtig, oberflächlich wie langweilig wirkt, sobald man näher tritt. Die Schlüsselfrage der Ästhetik lautet nicht, was schön ist oder Schönheit bedeutet, sondern was schön bleibt, auch wenn die Perspektiven gewechselt werden. Schönheit ist der Name für die verlegene Sehnsucht nach der Ganzheit der Welt.

Paradiesvögel

„Eine Frage: Sind Sie religiös?“ überrumpelte die Dame den Passanten, der an der Fußgängerampel stehengeblieben war. Das Paar, das an der Häuserecke seine frommen Blätter seit Stunden feilbot, hatte den unsteten Blick des Stadtbesuchers als neugierig gedeutet und versuchte, ihn ins Gespräch zu ziehen. „Glauben Sie an den Allmächtigen?“ Leicht belustigt über die verschrobenen Missionare, er mit Filzhut, sie mit einem Knotenhaarnetz, antwortete der Fremdling: „Nein, ich habe noch Sex.“ Nun war es an ihm zu überrumpeln. Für den Bruchteil einer langen Sekunde schienen die beiden Vorkämpfer der guten Botschaft erschrocken zu sein. Doch dann ergriff der Mann mit der zerbeulten Kopfbedeckung ernst das Wort: „Die Liebe ist die größte Gabe, die wir dem Schöpfer verdanken.“ Die Erwiderung ließ nicht lang auf sich warten: „Das haben die ersten Menschen auch gleich verstanden. Sie nahmen sie dankbar, um sich mit ihrer Hilfe aus dem Paradies zu vögeln.“ Die Ampel schaltete auf Grün.

Verzögerungen im Betriebsablauf

Der Gast hört die schneidende Stimme des Zugbegleiters schon von weitem durch das langgezogene Abteil drohend dringen: „Zugestiegene, die Fahrscheine“. Ihn kümmert es noch nicht, weil er vertieft ist in seine Lektüre und die paar Minuten lesen will, bevor er dann an der Reihe sein würde. Als sich der unfreundliche Kundenbetreuer vor seinem Sitzplatz aufbaut, überkommt ihn die Freude am gezielten Ärgernis. Er fühlt sich belästigt vom lauten Machtgestus des Kontrolleurs, der die Reisenden wie stutzige Untertanen anspricht. Und nestelt betont langsam in seinem Rucksack, als suche er das Ticket, von dem er genau weiß, in welcher Jackentasche es steckt. Der Schaffner wird ungeduldig. „Beeilen Sie sich mal ein bisschen.“ Den Fahrgast bringt das nicht aus der Ruhe. In der Zwischenzeit rollt der Waggon in den Bahnhof. „Wir sehen uns noch“, meint der Zugbegleiter, der sich an der Tür zu schaffen macht. „Gern“, erwidert der Passagier, der daraufhin sein Gepäck rasch greift, die BahnCard 100 sichtbar in der Hand, und am Diensthabenden grinsend vorbeistreift: „Sie nennen das, glaube ich, Verzögerungen im Betriebsablauf. Tschüs“, verabschiedet er sich.

Tabula rasa

Jene, die an ein Tabu rühren, um die Belastbarkeit ungeschriebener Gesetze zu prüfen, sei es aus Lust an der Provokation oder in bester aufklärerischer Absicht, verkennen, dass das, was sie für eine Schwäche halten, das Ungeschriebene und Ungesagte, die Stärke dieser Prinzipien ausmacht. Einmal in Worte gefasst, verliert das Normengeflecht seine regulierende Kraft; expliziert wirkt es banal, allzu selbstverständlich, und muss erfahren, wie gerade der Versuch, es in genaue Formen zu bringen, ihm die Selbstverständlichkeit geraubt hat. Da bleibt nichts als die schwache Erinnerung an einen Zauber. Aus dem Tabu ist eine tabula rasa geworden, nur dass nichts auf ihr je gestanden hatte, sie aber jetzt der Ort ist für alles mögliche. Der Satz, man müsse es doch wenigstens einmal sagen dürfen, lässt nicht nur offen, ob es „es“ ist, was ausgesprochen wird. Er tarnt seine Naivität als Unschuld.

In der Vorhölle der guten Vorsätze

Eine Woche guter Vorsätze, die zu Jahresbeginn Katerstimmung gar nicht erst aufkommen ließen, zeigt vornehmlich, dass die meisten Ansätze, das Leben in einigen Aspekten radikal umzugestalten, sich schon heimlich verbündet hatten mit der Einsicht, dass es sich entscheidend nicht verändern lässt. Aus diesem verschwiegenen Pakt zieht der Wille zum Bruch mit lästigen Gewohnheiten seine Kraft und Gelassenheit, seine Unbekümmertheit und Überlegenheit, wenn es nicht gleich gelingt.