Es könnte die Kultur in Behörden, Kirchen, Unternehmen oder Instituten, Vereinen und Museen tief verändern, wenn Orte, an denen die Türen offenstehen, ihr Selbstverständnis über Formen der Gastfreundschaft gewönnen. Dann käme es zunächst weniger an auf das, was es zu zeigen gibt, was anzubieten sinnvoll erscheint, sondern auf ein vorrangiges Interesse an dem, der eintritt. Vor dem Warensortiment oder der Botschaft stünde die schlichte Frage: Wer bist du, der du uns besuchst? Wo kommst du her, wo willst du hin? Was bewegt dich? Warum wir? Wie können wir helfen? Dienstleistung wird fälschlich verstanden als Präsentation einer großen Fülle an Antworten und Lösungen. Dabei wäre die einfachste Übersetzung ihrer Aufgabe, den Besucher und Ersucher sich nicht fremd fühlen zu lassen.
Monat: Februar 2020
Selbstbestimmung
Die Frage, wie wir leben sollen, die Platon in seiner Schrift vom Staat (Politeia 353d) erstmals ausführlich behandelte, schließt die Frage, wie wir sterben sollen, allenfalls so ein, dass wir ein Leben lang lernen, was es bedeutet, endlich zu sein. Was könnte das anderes heißen, als die Einsicht zu gewinnen, dass alles, auch das Selbst, seine Grenze hat? Es gehört zu den großen Selbsttäuschungen zu glauben, dass Selbstgesetztes auch Selbstbestimmtes sei. Klug ist, wer der Unfasslichkeit des Anfangs entnimmt, dass Diskretion und Demut auch dem Ende gegenüber walten zu lassen sich ziemt.
Lustig, lustig
Die Lustigkeit der anderen ist immer laut und wirkt oft abstoßend, weil über dem Gelächter sich zugleich die Verschworenheit derer mitteilt, die nicht an sich halten können. Die Freude der anderen hingegen steckt an, manchmal still, so dass der Anlass zum Frohsinn nicht einmal bekannt sein muss.
Die Falten im Lausbubengesicht
Es ist lustig, wenn ein Alter den anderen Alten für gestrig hält, nur um trotzig zu erklären, dass er sich selber als die Speerspitze eines Fortschritts versteht, der sich zunächst wie eine schlichte Rückkehr zu verlorenen Werten vorstellt. Souverän wäre hingegen die Befreiung vom Zwang gewesen, sich abgrenzen zu müssen, um die eigene Identität scharf zu umreißen. Erst diese Art der Fraglosigkeit erlaubt die Fraglichkeit als eine Haltung, die ein frisches Selbstbewusstsein jenseits von Schmollgrübchen und Lausbubengesicht repräsentiert.
Die Lebenslüge am Bankschalter
Viel leichter als das Vorurteil, dass der Umgang mit Geld den Charakter verdirbt, lässt sich belegen, dass der Charakter den Umgang mit Geld verdirbt.
Vertagungsthemen
Der kluge Entscheider zeigt sich im Geschick, Lästiges aufzuschieben. Er weiß, dass vieles sich von selbst erledigt, wenn man es nicht gleich anpackt. Und manches erst dadurch seinen Wert erlangt, dass die Sache drängt. Von den meisten Aufgaben gilt: Was du heute kannst besorgen, das hat Zeit bis übermorgen. Prokrastination ist eine der bedeutenden Leistungen der pragmatischen Vernunft, die so nachweist, wie sie gelernt hat, die Vergänglichkeit für die eigenen Zwecke einzuspannen.
Jetzt erst recht
Nicht selten belohnt das Leben die Trotzigen, die wider Unbill und Umständlichkeit eine Überzeugung hartnäckig setzen und ihr durch den Beiklang eines festen Prinzips den Anschein von Wahrheit geben, den die Sache selbst sich nie hätte erstreiten können. Das unbeirrbare Credo ist eine Eigenschaft, die auf die Qualität der Angelegenheit, auf die es sich richtet, nachhaltig Einfluss ausübt. Am Ende fällt der Unterschied zwischen der Beharrlichkeit des Zeugen und der Verlässlichkeit seines Zeugnisses.
Der Zufall will es
„Sind Sie zufällig in …?“ Die Assistentin des hochmögenden Vorstands, die sich beflissen erkundigt, koordiniert Termine und erklärt, den Aufwand für beide Seiten im erträglichen Maß halten zu wollen. Warum nicht das eine mit dem anderen verbinden, gar Angenehmes mit Nützlichem, wobei nicht ausgemacht ist, welcher der Reisezwecke der erfreuliche wäre. Denn hinter der Frage, die ernstgenommen selbstverständlich albern ist – wer hält sich schon zufällig auf in einer fremden Stadt und nicht absichtsvoll –, steckt das Bemühen, den Chef zu entlasten vom schlechten Gewissen, den Gast für eine Verabredung anreisen zu lassen, von der im vornhinein schon ausgemacht ist, dass für ein eigens anberaumtes Treffen der Anlass nicht lohnt.
Demokratie denken
Unter den versteckten Feinden der Demokratie finden sich zwei, die einander zu widersprechen scheinen: die Unfähigkeit, Überzeugungen auszubilden und sie zu vertreten, und die Vorstellung, nur feste Ansichten stützten die Selbstachtung und bildeten den eigenwilligen Charakter. Hier der Mangel an Stellungnahme, der die Teilnahme und die Teilhabe an dem, was Gemeinsinn und Gemeinwohl auszeichnet, unterläuft; dort die prinzipienbewusste Position, die zum Starrsinn neigt und in Gesprächen stets schon den Ausgang kennt. Beide scheuen die argumentative Auseinandersetzung, in der sie sich entlarvt fühlten als wankelmütige Indifferenz oder verkrusteter Dogmatismus. Entschlossen zu sein und zugleich offen ist aber die gar nicht widersprüchliche Voraussetzung einer lebendigen Demokratie. Sie fußt auf dem Grundsatz der Toleranz, der die eigenen Ansichten in dem Maße als fest wertschätzt, wie sie sich im Streit mit fremden Anschauungen geformt haben und bereit sind, sich jederzeit vernünftig zu rechtfertigen. In der kleinen Schrift „Entschiedene Ansichten und Demokratie“* untersucht der Wirtschaftstheoretiker Albert O. Hirschman die Rolle der Individualität im politischen Raum: „Eine Weise nun“, schreibt er, „sich Ansichten auf … persönlichkeitsbereichernde Art anzueignen, besteht darin, diesen erst dann eine feste Form zu geben, wenn sie die offene Konfrontation mit anderen ausgehalten haben.“* Solches Aushalten lässt sich antizipieren. Man nennt das Selbstkritik.
* Selbstbefragung und Erkenntnis, 100
Zum Platzen klug
Die Klugheit eines Menschen zu illustrieren, reichten Bücher nicht aus. Aber es genügte schon ein einziger Satz, um seine Dummheit zu dokumentieren.
Experten der Erneuerung
Nicht selten sind es kleine Korrekturen, die eine Sache im Ganzen verwandeln. Viele, die Verantwortung übernehmen für die Veränderung von Organisationen, suchen nach ausgefeilten Programmen, setzen auf neue Methoden und stoßen gewaltige Prozesse an, die festen Strukturen aufzubrechen. Der Anstoß zur Umgestaltung ist die Stunde, in der die Experten der Erneuerung auftauchen, allesamt Berufszyniker, die mit der Gewohnheit von Gruppen ihr Geschäft und die Fragilität des Fortschritts sich zunutze machen. Dabei reichten nicht selten wenige, gezielt gesetzte Eingriffe in die Statik eines Unternehmens: hier eine Versetzung, dort eine Entlassung, da ein paar Hinweise, und vor allem viel Freiheit. Der Rest ist die Zuversicht, dass die meisten ihr im Arbeitsalltag verschüttetes Arbeitsethos wiederentdecken. Der größte Feind der Erneuerung ist die Ideologie, die mit ihr betrieben wird.
Der kluge Redner
Der kluge Redner unterscheidet sich von all den anderen, die das Wort kraftvoll ergreifen, nicht nur durch das, was er sagt. Er weiß vor allem sein Schweigen, die Pausen im öffentlichen Gedankenfluss, so wirksam einzusetzen, dass dem Publikum nichts anderes bleibt, als sie für stille Nachweise seiner Kompetenz zu halten. Bedeutsamkeit ist die Folge einer Rhetorik wohlgesetzter Zurückhaltung.
Ergebnisdienst
Die strukturelle Ungeduld der Medien erzwingt das muntere Reden im Modus des Ergebnisses, wenn längst noch nicht alles durchdacht und abgeklärt sein kann. Das Publikum will Resultate sehen und misst sie streng an Merkmalen gefügiger Brauchbarkeit: Da ist Widerspruchsfreiheit wichtiger als die Weitsicht, die leichtgängige Umsetzung ausschlaggebend, nicht die Ungewöhnlichkeit des Vorschlags. So manches öffentliche Vertrauen in Politiker oder Unternehmenslenker geht nicht zuletzt verloren, weil sie, genötigt von der Nachrichtenlage, Vorläufiges als letztes Wort deklarieren. Das Volk giert schon nach Lösungen, wo erst die Probleme vorsichtig formuliert werden müssen. An der Meinungsbildung teilzuhaben setzt aber voraus, dass man Fragiles erträgt, Zweifel aushält, Antworten noch schuldig bleiben darf, die Zumutungen der Nachdenklichkeit sucht.
Zeitenwechsel
Die Gegenwart der Vergangenheit: Erfahrung.
Die Zukunft der Vergangenheit: Erinnerung.
Die Vergangenheit der Gegenwart: Erhaltung.
Die Zukunft der Gegenwart: Erwartung.
Die Vergangenheit der Zukunft: Ernüchterung.
Die Gegenwart der Zukunft: Erneuerung.
Unter der Lupe
Nichts macht die Angst so groß wie die Angst vor der Angst.
Die Neugier jenseits des Offensichtlichen
Denken bedeutet: neugierig sein, wenn es anstrengend wird; eine sachliche Arroganz entwickeln gegenüber Antworten; die Wirklichkeit der Wirksamkeit immer vorziehen; Freundschaft mit dem Anfangen pflegen; über der Reflexion die Naivität nicht verachten; Fragen stiften, in die das Neue sich bereitwillig ergibt; nicht aufhören, wenn andere aufgegeben haben; bestimmt sein, wo andere im Ungefähren verweilen; Wahrheit nicht nur als logische Qualität sehen, sondern als eine Form von Freiheit verstehen …
Zur Innenarchitektur des Lebens
Räume, die in den eigenen vier Wänden wenig genutzt werden, degenerieren mit der Zeit zu Abstellkammern, in denen der Unrat lagert, von dem sich zu trennen der Entschluss nicht fest genug war und den zu nutzen der Geschmack sich nicht hatte durchringen können. Da finden sich allerlei Geschenke, für die man schon immer keine Verwendung fand, aussortierte Erinnerungsstücke, die sich aus Gründen der Pietät nicht entsorgen ließen, nie beschlossene Plundersammlungen, schnell versteckte Fehlkäufe, Ramsch, Krimskrams, Schnickschnack. In diesen Nebenzimmern haben die Ballaststoffe des Lebens ihr Hausrecht. Das Ärgernis, sie nur verräumt, nie aber entsorgt zu haben, verkennt ihren Wert. Sie sind, gestehen wir es ein, so wichtig, wie sie überflüssig erscheinen. Gelegentlich wird das Stöbern im Trödel sogar belohnt, weil sich kleine Pretiosen (wieder)finden, die im Nachhinein das einstige Zögern vor dem Abfall rechtfertigen. So übernimmt das einst Nichtbeachtete die Aufgabe zum Hort zu werden für das, was später entscheidend sein mag, und kann es, weil über es nie das letzte Wort gesprochen wurde.
Im Gespräch
Ein gutes Interview stellt den Gesprächspartner nicht nur in die Situation, gefragt zu werden, sondern gibt ihm auch das Gefühl, gefragt zu sein.
Verfahrenstechnik
Jederzeit Herr des Verfahrens zu sein, das ist die dürre Vorstellung von Macht, die in der Tagespolitik noch bis in die Begründungen eines Rücktritts hängengeblieben ist: weil ohne die Kanzlerkandidatur der Parteivorsitz zu dürftig sei, die Bewerbung um das Regierungsamt aber nicht in Frage komme, müsse die Führungsrolle überhaupt aufgegeben werden, allerdings erst, wenn klar ist, wer im Wahlkampf die Spitzenposition einnimmt. Diese Logik ist bestechend, besitzt aber den Charme eines saarländischen Stahlwerks. Unerwähnt bleibt das Scheitern in der Gestaltungsmacht, also an jenem Auftrag, der mit hoher Stellung stets einhergeht. Das Was ist zwischen Wer und Wie zerrieben. Auch in der bestürzten Diskussion um die Nachfolge gewinnen die Regelungen schnell Oberhand. Politiker sind Meister der Prozesse. Was politische Mitte ist, wird fast arithmetisch ausgemacht, durch die Negation der Extreme von links und rechts im Außenverhältnis – die Mitte ist Weder-Noch – und durch die Integration der Flügel nach innen – die Mitte ist Sowohl-Als auch. Das, was einen klar formulierten Inhalt auszeichnet, Entweder-Oder zu sein, dieses und nicht jenes, spielt keine Rolle. In wirren Zeit, im Jahr 1919, hatte Max Weber seinen Vortrag „Politik als Beruf“ gehalten, in dem er fragt, was für ein Mensch man sein müsse, „um seine Hand in die Speichen des Rades der Geschichte legen zu dürfen“. Und er antwortet: „Man kann sagen, dass drei Qualitäten vornehmlich entscheidend sind für den Politiker: Leidenschaft – Verantwortungsgefühl – Augenmaß. Leidenschaft im Sinne von Sachlichkeit.“* Das Wort „Sachlichkeit“ ist gesperrt gedruckt, betont. Es ist der Schlüssel, auch für die Überwindung der aktuellen Vertrauenskrise im Politikbetrieb. Solange das Was nicht dem Wer vorgeordnet wird, solange Inhalte nicht die Personalentscheidungen prägen, wird sich an der Verdrossenheit und dem Unmut des Bürgers nichts ändern. Und dann erst, dann mag die Vorgehensweise wieder in den Blick geraten. Die Kunst des Politischen zeigt sich im Umgang mit der Gestaltungsmacht. Der Rest, das Verfahren, ist Handwerk.
* Politik als Beruf, 51
Das schöne Wort
Die meisten Inhalte werden hässlich, wenn man sie schönredet; aber die Sache gewinnt erst den ihr angemessenen Glanz, wenn man über sie schön redet.
Lange Leitung
Man kann die Intelligenz messen, indem man die Zeit nimmt, die einer braucht von der Pointe eines Witzes bis zum ersten Auflachen. Einige indes kichern schon vor dem Schlussakt. Sie halten die Spannung nicht aus. Und andere verziehen keine Miene nach dem Scherz. Die sind am schwierigsten zu beurteilen, vorausgesetzt der Humor stimmt. Entweder sie verstehen ihn nicht. Oder sie haben den springenden Punkt längst erfasst, warten aber zu aus Rücksicht auf die Langsamen und überlegen sich in der Zwischenzeit, wie laut sie einstimmen wollen.
Wie elend ist das denn?
Viele Männer inszenieren den kleinen Schnupfen zwischendurch, als müssten sie sofort in die Intensivstation der Notfallklinik gebracht werden. Sie erleben jede Krankheit als Vorgefühl ihres späteren Alters und sich anlässlich geringster Gebrechen wie knöcherne Greise, die vom Stock gestützt kaum ein paar Schritte gehen können.
Wenn die Dummheit demokratisch wird
Einst hieß politische Mitte pragmatisch, was immer für eine Mehrheit gut war. Jetzt kann politische Mitte prinzipiell nur der Maßstab genannt werden, der einer Demokratie gut tut. Ob sich da noch eine zureichend große Zahl an Stimmen einfindet? Die beiden größten Feinde der Demokratie sind Charakterlosigkeit und Dummheit. Sie müssen nicht einmal paarweise auftreten. Es genügt, wenn die einen zu beschränkt sind, die Niedertracht der anderen zu durchschauen.
Tragödie und Farce
Einer der bekanntesten Sätze von Karl Marx beginnt mit einem Verweis auf den Erfinder der modernen Dialektik: „Hegel bemerkte irgendwo, daß alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen sich sozusagen zweimal ereignen. Er hat vergessen, hinzuzufügen: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce.“* Angesichts der politischen Volten, mit denen das Landesparlament in Thüringen den Kandidaten der schwächsten Partei mit dem Amt des Ministerpräsidenten betraut hat, muss man das Umgekehrte mindestens genauso fürchten: Solche Ereignisse erscheinen zunächst als Farce und enden als Tragödie.
* Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, MEW 8, 115