Tag: 21. Februar 2020

Demokratie denken

Unter den versteckten Feinden der Demokratie finden sich zwei, die einander zu widersprechen scheinen: die Unfähigkeit, Überzeugungen auszubilden und sie zu vertreten, und die Vorstellung, nur feste Ansichten stützten die Selbstachtung und bildeten den eigenwilligen Charakter. Hier der Mangel an Stellungnahme, der die Teilnahme und die Teilhabe an dem, was Gemeinsinn und Gemeinwohl auszeichnet, unterläuft; dort die prinzipienbewusste Position, die zum Starrsinn neigt und in Gesprächen stets schon den Ausgang kennt. Beide scheuen die argumentative Auseinandersetzung, in der sie sich entlarvt fühlten als wankelmütige Indifferenz oder verkrusteter Dogmatismus. Entschlossen zu sein und zugleich offen ist aber die gar nicht widersprüchliche Voraussetzung einer lebendigen Demokratie. Sie fußt auf dem Grundsatz der Toleranz, der die eigenen Ansichten in dem Maße als fest wertschätzt, wie sie sich im Streit mit fremden Anschauungen geformt haben und bereit sind, sich jederzeit vernünftig zu rechtfertigen. In der kleinen Schrift „Entschiedene Ansichten und Demokratie“* untersucht der Wirtschaftstheoretiker Albert O. Hirschman die Rolle der Individualität im politischen Raum: „Eine Weise nun“, schreibt er, „sich Ansichten auf … persönlichkeitsbereichernde Art anzueignen, besteht darin, diesen erst dann eine feste Form zu geben, wenn sie die offene Konfrontation mit anderen ausgehalten haben.“* Solches Aushalten lässt sich antizipieren. Man nennt das Selbstkritik.

* Selbstbefragung und Erkenntnis, 100