Monat: März 2020

Lebenslust

Die Lebenslust ist die einzige Steigerungsform, die den Menschen am Ende nicht überfordert. In der beharrlichen Erwartung, dass morgen ein schönerer Tag komme, dass die nächsten Einsichten heller seien, dass Freundschaften sich auf Dauer vertieften, dass auch eine große Liebe noch wachsen könne, dass es in jedem Fall lohne, eine Spanne dranzusetzen an all das, was die Zeit schon gebracht hat, in dieser Erwartung verbirgt sich weniger eine unbelehrbare Naivität, die nicht wüsste, dass es auch anders kommen kann, als die unbändige Neugier des Lebens auf sich selbst.

Stillstand

Es ist das Kennzeichen eines unbeschädigten Lebens, dass seine innere Bewegtheit wächst in dem Maße, wie es zum äußeren Stillstand kommt.

Der vorbereitete Geist

Solange die Zukunft mehr anstrengt als das, was zu tun war oder ist, stehen wir am Anfang einer Krise. Alle Kraft konzentriert sich auf den ungewöhnlichen Umstand, dass große Ungewissheit nicht so sehr Bedächtigkeit und Zweifel hervorruft, sondern maximale Entschiedenheit fordert und den Menschen auf ein Handeln verpflichtet, von dem niemand mit Fug sagen kann, ob es angemessen sein wird. Louis Pasteur, der im neunzehnten Jahrhundert die Mikrobiologie mitbegründet hatte und ein Verfechter der Impfung wider Infektionskrankheiten war, erinnerte an die Verwegenheit der Propheten, wenn er zur Entschlossenheit aufrief (er experimentierte in der Landwirtschaft mit Vakzinen gegen Viren), seinen Programmen zur Immunisierung gegen Krankheitserreger zu folgen. Propheten wissen im erkenntnistheoretischen Sinn nicht mehr als andere, aber ihre Ahnung von dem, was kommen wird, ist voller Kraft zum Weckruf und begleitet vom gesammelten Ernst zu agieren. „Der Zufall begünstigt den vorbereiteten Geist“*, sagte der Biochemiker. Was das bedeutet? Nicht: mit allem wild zu rechnen. Aber: das Maß der eigenen Fähigkeiten zu erhöhen, von denen der Mut eine bevorzugte ist.

* Pasteur Vallery-Radot (Hrsg.): Œuvres de Pasteur. Band 6: Maladies virulentes, virus-vaccins et prophylaxie de la rage. Masson, Paris 1933, 348. – Der Satz, der von Managern gern zitiert wird, verweist auf ein altes lateinisches Sprichwort, nach dem den Tapferen, den Befähigten das Glück helfe.

Flache und steile Kurven

Aus dem ersten Entwurf einer Gesellschaftstheorie, die vor fast fünfzig Jahren so konzipiert wurde: „Fragen wir zunächst unseren Zeitgeist. Wenn unsere Gesellschaft sich auf ein Symbol einigen müßte, so würde es vermutlich nicht der Kreis, nicht das Kreuz, nicht die Linie sein, sondern die schwindelerregende Exponentialkurve. Exponentialkurven, die zunehmend beschleunigte Zunahmen von was auch immer ausdrücken, symbolisieren gegenwärtig die Einheit von Wunsch und Krisenerwartung.“ Es liege auf der Hand, „die Zeichen der Zeit als Symptome der Überforderung durch Komplexität zu deuten“*, setzt der Autor, Niklas Luhmann, in seinem Typoskript fort. Und man könnte anschließen: Wenn unsere Welt sich auf einen Begriff einigen müsste, der ihren Zeitgeist präzise erfasst, so ist es: diese Überforderung (durch sich selbst). – Der Theologe wird einwenden wollen, dass es der Gesellschaft dann doch guttäte, sich des vorösterlichen Symbols des Kreuzes als eines Verweises auf die größtmögliche Entlastung vom Steigerungszwang wieder zu erinnern.

* Niklas Luhmann, Systemtheorie der Gesellschaft, 300

Warteschlange

Im Unterschied zu den anderen Arrangements mit dem Unvermeidlichen wie der Vergeblichkeit oder der Verzweiflung, der Verdrängung und dem Vergessen wendet die Geduld sich hin zu dem, was den Aufschub erzwingt. Sie hält die Spannung aufrecht, indem sie die Änderung der Verhältnisse still erhofft, ohne darauf zu setzen, dass ihre Erwartung unmittelbar erfüllt wird. Dieser Langmut hält das hohe Niveau seiner Ansprüche, auch wenn nicht gleich zu erkennen ist, wie sie eingelöst werden sollen. Er lebt von der Überzeugung, am Ende recht zu bekommen. Die Geduld hat vor allem eine schöne Eigenschaft: Sie hält wach.

Verhältnismäßigkeit

Die Zeit kommt, in der die Aufmerksamkeit, die gebannt ist von der einen Ansteckungsreihe, der medizinischen, und die es zu unterbrechen gilt, sich hinwendet zur anderen epidemischen Infektionskette: der, über die ein auch gefährlicher Erreger springt von der Massenerkrankung, der Aufhebung von elementaren Rechtsgrundsätzen auf die Volkswirtschaft, von dort über Versorgungsengpässe hin zu gesellschaftlichen Unruhen, in denen zunächst die Kranken geächtet werden und dann jeder gegen jeden sich aufrichtet, weil er um sein eigenes Überleben fürchtet.
Wo mobile Ambulanzen, die alte Patienten transportieren, vom steinewerfenden Pöbel aufgehalten werden, sind neben die leuchtenden Signale der Solidarität düstere Anzeichen von Anarchie gesetzt. Es ist der Moment, in dem die Angst, dass alle gleichermaßen getroffen sein könnten von einem feindlichen Virus, sich auflöst in die Ängste der vielen, die unterschiedlich stark mit den Auswirkungen der Krise zu kämpfen haben, den finanziellen wie denen, die unsere Freiheit beschränken. Und die jetzt mutmaßen, es könnte die radikale Bekämpfung des Notstands, nach einem alten Aphorismus von Karl Kraus*, die Krankheit sein, für deren Therapie sie sich hält.
Nun sind Differenzierungen ein Indiz von Klugheit, auch im Umgang mit Katastrophen. Und die Gleichsetzung ist nichts, was ohne die Angabe einer Bezugsgröße sinnreich sein kann: Wir sind gleich vor dem Gesetz, vor dem Tod, vor Gott. Was eine ungleiche Behandlung von Aufgaben, Fragen, Problemen nicht ausschließt, sondern als deren Bedingung gilt. Sind wir aber auch gleich vor der Krankheit? Die Einteilung in Risikogruppen markiert nicht nur uneinheitliche Gewichtungen, die unmittelbar der fatalen Statistik folgen, sondern auch den Ausgangspunkt einer Selektion in bester Absicht fürs große Ganze, der Wirtschaft und Gesellschaft, die im Einzelfall höchst zweifelhaft ist.
Dass Menschenleben nie gegeneinander verrechnet werden dürfen, ergibt sich aus einer fragilen Zuschreibung, die das Grundgesetz unter den Stichworten „Würde“ und „Unantastbarkeit“ zusammenfasst und die den alten Grundsatz von Immanuel Kant aufnimmt, nach dem jeder von uns als ein Individuum anzusehen sei, das „niemals bloß als Mittel“** zu betrachten ist, das für höhere Zwecke geopfert werden darf. Geschieht das nicht längst, wo Ärzte mangels Ausrüstung verzweifelt entscheiden müssen, wem die Hilfe gewährt wird? Und geschähe das nicht in dem Augenblick, in dem ausgewählt (nach welchen belastbaren Kriterien, wenn längst auch Jüngere in signifikanter Zahl ernsthaft erkranken?) und die Gleichheit vor dem Gesetz aufgehoben würde? Verwandelte sich die Bezeichnung „Risikogruppe“, die den besonderen Schutz herausfordert, nicht unterschwellig in eine boshafte Identifikation jener, die eine ganze Ökonomie riskierten, wenn sie nicht in ihren Bewegungsräumen strikt eingehegt würden? Wären die Gefährdeten dann nicht auch die Gefährder?
Der Pragmatismus, der seine gesammelten Vorzüge in den Stunden der Krise brillant auszuspielen vermag, hat wie alles, das vom eigenen Erfolg getragen wird, einen Hang zur Verabsolutierung. Als dessen Korrektiv, das solche Unmäßigkeit verhindert, muss das Prinzip der Selbstzwecklichkeit des Menschen gesehen werden, nicht als der bornierte Ausdruck eines besserwisserischen Philistertums. Nein, es geht auch hier nicht um Pedanterie im Großen, sondern um eine Beschränkung, um die strikte Erinnerung an jene Vorsicht, sich nicht, trotz des hehren Willens zu retten, was zu retten ist, versehentlich anstecken zu lassen allein von Nützlichkeitserwägungen im Heiligsten, der letzten Unberührbarkeit des Lebensgeheimnisses, das sich in unserer Freiheit, als Vernunft, in der Vorstellung der Würde manifestiert. Das trägt nicht immer zur Klarheit bei, leitet in tragischen Momenten nicht eindeutig an, aber es kann als ein untrügliches Regulativ wirken, das selbst in der unauflösbaren Problematik den Zwang zum Entschluss nie leichtfertig sein lässt. Und ihm in dieser Last das Versprechen beigibt einer Erträglichkeit, die mit dem Maß der Verantwortung steigt.
Diese Demut, die sich im Umgang mit Fragen zeigt, von denen wir nicht einmal sagen können, sie seien falsch, sollte in die Zurückhaltung münden, wenn jene ernsten Antworten auf sie gegeben werden müssen, von denen wir schon deswegen nicht behaupten mögen, dass sie je richtig sein könnten.

* „Psychoanalyse ist jene Geisteskrankheit, für deren Therapie sie sich hält.“ – Nachts, A 1684
**„Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.“ – Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, BA 66

Umwertung der Werte

In der Übergangsphase vom Leben ins Überleben, durch deren Länge die Drastik einer Krise definiert wird, verwandelt sich vieles von dem, was vor Kurzem noch als notwendig und bedeutsam, als Schmuck und Stolz erachtet wurde, zunächst in blassen Luxus, bevor es wenig später für überflüssig erklärt wird. Das ist eine der heilsamen Nebenwirkungen – oder gar: das Charakteristikum*? – der großen Krisen, dass sie in ihrer zerstörerischen Wucht nicht nur unterschiedslos wüten, sondern zugleich den Sinn schärfen für die Unterscheidung, wer oder was wichtig, verlässlich, grundlegend ist.

* Das Wort „Krise“ ist abgeleitet aus dem griechischen κρίνειν (krínein), das mit „trennen“, „scheiden“ übersetzt wird. 

Einen schönen Tag noch

Das, was zu besprechen war, hatten sie beredet. Aber er wollte nicht gleich auflegen, wie sonst, wenn er am Telefon war und das Geschäftliche abgehakt, sondern suchte verkrampft noch ein, zwei freundliche Worte. Ist ja wichtig in diesen finsteren Zeiten, dachte er. „Wie ist das Wetter bei Euch?“ Seiner Vorstellungskraft, wie er in ein Gespräch jenseits der förmlichen Fragen einsteigen könne, waren Grenzen gesetzt.
„Verlogen“, antwortete sie.
„Ich meine, ist es auch so schön?“
„Das sagte ich ja. Ich finde, dass die letzten Tage die Sonne von einem wolkenlosen Himmel strahlt, ist verlogen. Bigottes Wetter, das ist die neue meteorologische Bezeichnung für ein stabiles Hoch. Als könne die Welt gerade kein Wölkchen trüben.“
Alles, was er sich als Nächstes zurechtgelegt hatte für den Teil des Dialogs, den er für so überflüssig hielt, für inhaltsloses Gerede und sinnloses Geplaudere, passte nicht mehr. Er wusste nicht, was zu erwidern, und stammelte: „Du meinst …“
„Die Wahrheit wird immer abstrakter. Morgens stehst du auf, und wüsstest du es nicht besser, würdest du nur fröhlich denken: was für ein herrlicher Tag.“
„Was ist daran schlimm?“
„Nichts. Nur dass wir gerade das Gegenteil dessen sehen, was Sache ist. Dennoch, denke ich, können wir aus dieser wetterkundlichen Arglist eine Menge lernen. Zum Beispiel, dass solche Verkehrtheit durchaus richtig sein kann. Richtig, weil tröstlich. Und dass das ernste Starren auf Zahlen und Prognosen nicht nur freudlos ist, sondern auch vieles fehlleitet. Du wirst sehen, das scheinheilige Wetter wird noch die Fakten beeinflussen. Die Leute handeln an der Börse mit guter Laune besonnener, ja lassen sich manchmal sogar treiben zu Käufen, die sie sonst zurückstellten. Und auf die Gesundheit wirkt sich das auch aus. Warte es ab.“
Auf dieses unsichere Terrain wollte er sich wirklich nicht mehr begeben. Ihm wurde mulmig, und er murmelte nur: „Wir stehen erst am Anfang der Krise.“
„Eben“, erwiderte sie, „und am Anfang so mancher Einsicht. Lass uns schließen für heute.“

Die Stunde der Realität

Wie sehr die Weltlage nicht mehr nur fesselt, sondern gefangen hält, spürt man spätestens beim verzagten Fluchtversuch. Erschöpft vom Übermaß an Schreckensmeldungen und düsteren Szenarien, kommt kurz der Gedanke auf, auszuweichen und sich abzulenken durch Filmkunst oder literarischen Stoff. Doch obwohl man von den Katastrophen für einen Moment nichts mehr hören kann, wirkt alles andere in seiner sonst schönsten Unwirklichkeit fad, ohne Gewicht, unbedeutend. In der Krise wird die Realität gewaltsam und bemächtigt sich des Spielraums der Phantasie.

Starker Staat

An nichts anderem als an seiner Fähigkeit, das Vertrauen der Bürger in seine Politik zu stärken, zeigt sich die wahre Stärke eines Staats.

Aura

In den „Mitteilungen über das Wesen der Aura“, die er im März 1930 in seinen „Erfahrungsprotokollen zum Haschischgebrauch“ notierte, schrieb Walter Benjamin: „Vielmehr ist das Auszeichnende der echten Aura: das Ornament, eine ornamentale Umzirkung, in der das Ding oder Wesen fest wie in einem Futeral eingesenkt liegt.“* Das sind die ersten Annäherungen an einen Begriff, den er später in der Abhandlung über das „Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ präzisierte und dort als ein Phänomen der Kunst und der Natur betrachtete: Die Aura sei eine „einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag … Das wesentlich Ferne ist das Unnahbare.“** Solche prinzipielle Unnahbarkeit entdeckt der Mensch in Zeiten der unmittelbaren Ansteckungsgefahr an sich selbst wieder, auch wenn er sich schwertut, sie als eine Auszeichnung zu akzeptieren, die Vorsicht und Respekt, Diskretion und Distanz gebietet. Sie ist natürlich nicht identisch mit dem aktuellen Abstandsgebot und hat nichts unmittelbar gemein mit der Vorsorge bei einem großen Infektionsrisiko. Aber all die Grenzmarken – wie in den Läden auf dem Boden vor den Kassen, am Wochenmarkt als Abstandsstreifen vor den Waren, um die Spielplätze herum, die als Sperrzonen gekennzeichnet sind, selbst der textile Mund- und Nasenschutz – mögen auch daran erinnern, dass nicht nur erhabene Formen in der Kunst, in der Natur oder Religion Erscheinungsweisen sind, denen man zu nahe kommen kann, sondern auch Individuen. Der Mensch ist nicht nur ein zoon politikon, das sich sozial organisiert, sondern in vielerlei Hinsicht ein Distanzwesen, das Übergriffigkeit empfinden kann und sich gegen sie mit Fug wehrt. Und dem entsprochen wird, indem Rituale der Höflichkeit nicht übersprungen werden, Fragen und Rückfragen anzeigen, was Wachsamkeit und Aufmerksamkeit, Fürsorge und Rücksicht bedeuten. Social distancing wäre nicht nötig, wenn jeder den anderen zugleich auch als Fremden ansehen könnte, trotz aller Ähnlichkeit, ihn in seiner Andersheit wertschätzte und dies vor allem Hang zur Nähe und in allen Formen der Nähe als Zeichen der Menschlichkeit verstehen könnte.

* Gesammelte Schriften Band VI, 588
** Ebd. I.2, 480

Bleiben Sie gesund!

In Zeiten, in denen die Krankheit allgegenwärtig ist, rückt der gesunde Menschenverstand in die Nähe eines medizinischen Befunds. Er ist nach gewöhnlicher Lesart das, worauf noch jeder sich berufen und den anderen erinnern können sollte, ein Mindestmaß an Einsichtsfähigkeit, das Erfahrungen zu Beurteilungen leichthin umformt. An ihm zu zweifeln wie an ihn appellieren zu müssen, mag ein Hinweis sein darauf, dass auch das Selbstverständliche sich nicht von selber versteht. Noch im achtzehnten Jahrhundert wurde der gesunde Menschenverstand mit dem sensus communis, dem Gemeinsinn, synonym verwandt, also jener Art des Denkens, die über das Eigene, die engen egoistischen und geistesbeschränkten Perspektiven hinaussieht. Immanuel Kant hat in seiner „Kritik der Urteilskraft“ ihn auf dreierlei Art beschrieben: „1. Selbstdenken; 2. An der Stelle jedes andern denken; 3. Jederzeit mit sich selbst einstimmig denken.“* Muss man noch hinzufügen, worauf es jetzt ankommt?

* KdU § 40

Schnell und unbürokratisch

Schnell und unbürokratisch, die in bester Absicht formulierte Eigenschaftsformel der Akuthilfe, bezeichnet nicht nur den Weg, über den Leistungen ungehindert den erreichen sollen, der sie dringend benötigt. Es ist nolens volens auch die versteckte Kritik an den Arbeitsroutinen von Behörden und Institutionen, deren bewährte Entscheidungsprozesse über Verwaltungsstrukturen so abgesichert sind, dass kein Einzelner einen bindenden Entschluss jenseits der vorgezeichneten Angebote treffen muss. Hätten sie wirklich so zu handeln, wie es Zeiten der Not unmittelbar gebieten, führte das in den Ämtern zur Auflösung der Zuständigkeiten. Das aber würde nicht die Verantwortlichkeit befreien, sondern als Entrée in die Desorientierung begriffen. Keiner hülfe, weil er fürchten müsste, Falsches zu beschließen, wenn ihm die vertrauten administrativen Methoden genommen sind und zwischen Anordnungen und Maßnahmen im Dienstverhältnis nicht vorkommt, für ein Urteil persönlich einzustehen.

Isolation

Die Insellage, mit der bei Reisen und in Immobilienportalen in heiteren Zeiten als Attraktion geworben wird, hat sich zur gefürchteten Perspektive gewandelt. Isolation, vom lateinischen insula abgeleitet, beschränkt die Vorstellung einer Existenz unter Voraussetzungen der Abgeschiedenheit auf deren hässliche Aspekte: das Alleinsein, die Einsamkeit, den Verlust von Nähe. Insulae, das waren im alten Rom die ersten Hochhäuserblocks, mehrstöckige Gebäude, meist rechtwinklig angeordnet, die wegen der Wohnungsnot innerhalb der Stadtmauern von den Architekten geplant und zur Miete vergeben wurden. So hatten die selbstgestalteten insulae nichts von jener prospektglänzenden Idylle, mit der Fernziele verlockend angepriesen werden. Anders als auf den Eilanden im Meer richtete sich der Blick in den insulae nicht gen Horizont, sondern vertikal aus, nach oben und unten, weil rechts und links nicht genügend Platz war. Sie sind das, nicht nur sprachliche Vorbild der Isolation. Orte, von denen aus das Sehen, die erste Form der Kontaktaufnahme mit anderen, höchst eingeschränkt war. Ob solche Insellagen, ob die Distanzierung von Menschen untereinander angenommen wird, ja gar als Entfaltungsform des Menschlichen betrachtet werden kann, hängt weniger an der Art des Lebens, abgeschottet zu sein, als vielmehr an einer geistigen Variante des Sehens, der Perspektive, die mit der Klausur, selbstgewählt oder verordnet, verbunden ist und zu der elementar gehört zu wissen, wie lang sie dauert. Gerade weil wir in einer und als Gesellschaft nicht isoliert nebeneinander leben, gelingt Isolation nicht allein, wenn wir verstehen, was geschieht, sondern erst dann, wenn wir uns darüber gemeinsam verständigen können.

Freie Gesellschaft

Das ist das Wesen einer selbstbestimmten Gesellschaft, dass sie nicht nur von ihrer Freiheit sinnvoll Gebrauch macht, sondern auch von ihrer Vernunft, die diese Freiheit angemessen zu begrenzen weiß.

Zwei Wochen, mehr nicht!

Der Umgang mit dem Unsichtbaren erlaubt kein reaktives Handeln. Nicht zu wissen, womit wir es genau zu tun haben und wann Vorsicht geboten ist, wann Erleichterung oder Entlastung erlaubt, diese abstrakte Gefahr, die tief einschneidende Wirkungen zeitigt, wird nur überwunden durch Disziplin, Selbstdisziplin. Zwei Wochen Abstand, jeder von jedem, zwei Wochen eine radikale Unterbrechung des Weltgeschehens, der Lebensgewohnheiten, der Bewegungsfreiheit, diese Zeit genügte, um das Virus verschwinden zu lassen. Es hätte keine Chance, sich zu erhalten. Das muss man sich klarmachen: Wir sind es, die dem Krankheitserreger zur Existenz verhelfen, und zu seiner zerstörerischen Macht. Niemand sonst. Zwei Wochen absolute Pause, sagen die Virologen; und die Welt erholte sich rasch. Ein kleiner Preis angesichts der Kosten, die die Pandemie jetzt schon verursacht hat. Im Testament, das zu lesen in die Tagen mehr denn je lohnt, findet sich der Satz: „Aber diese Art fährt nicht aus denn durch Beten und Fasten.“ (Matth. 17, 21) Es ist die Antwort des Weltenretters auf die Ratlosigkeit seiner Gefolgschaft, der nicht gelungen ist, einen Menschen zu heilen. Verwurzelt in der antiken Vorstellung von der Dämonisierung der Kranken, enthält das Wort mit dem Verweis auf Formen der Vereinzelung – jeder betet und fastet für sich – die Perspektive der Befreiung. Das Gespräch soll aufhören zu irrlichtern, nicht hier, nicht dort stattfinden, sondern still werden, theologisch: sich für einen längeren Augenblick auf Gott konzentrieren. Und die Lebendigkeit des Lebens soll für einen sinnvollen Moment auf das Notwendige sich reduzieren. Beten und Fasten, anders geht es nicht; in der säkularen Variante: unbedingt darauf setzen, dass es mit dem Abstand vom Alltag, mit heilsamer Distanz gelingt. Jesus diagnostiziert seinen Jüngern in dieser Geschichte Unglauben und spiegelt ihn an der bekannten Verheißung, dass der Glaube Berge versetzen könne. Es ist der Appell an das Vertrauen, das die einzige angemessene Entsprechung zum Unsichtbaren ist. Zwei Wochen, mehr nicht.

Krisenmanagement

Die öffentliche Begleitung einer Großkrise gelingt in dem Maße, wie sie die beiden Ebenen des Faktischen und des Symbolischen gleichermaßen bespielt. Ein klares Wort zur Sache, der Verzicht aufs Beschönigen, die Nüchternheit in den Urteilen, Zweifeln, Abwägen, Einschätzen, das alles gehört zum kritischen Umgang mit der Situation. Mindestens so entscheidend aber ist das Verhältnis, das Experten und Politiker coram publico zur Lage entwickeln und zeigen: die Besonnenheit, Entschlossenheit oder Behutsamkeit, zum Verstehen auch das Verständnis, Mut und Trost. Die Tatsachen dürfen die Einstellungen nicht hindern; die Deutungen die Daten nicht korrumpieren. Der Weg wird zum schmalen Grat, wenn die wirkliche Entwicklung Anlass gibt zu einer Angst, die aber nicht sichtbar sein darf, weil sie die Bewältigung des Notstands erschwert. Und alle sehen, wie das eine das andere beeinflusst.

Zurückgeworfen

Es sind in der Entwicklungsgeschichte des Menschen stets die Phasen der Langeweile, in denen er auf (auch dumme) Gedanken gekommen ist und seine Daseinskultur dauerhaft bereichert hat. Was zur Zeit als shut down verordnet wird, Läden-, Schul- und Grenzschließungen, das Verbot von Großveranstaltungen, die Einschränkungen sozialer Kontakte, die Quarantäne und Empfehlungen, Grußformen zu ändern, diese Reduktion des Alltags kennen Religionen seit alters als heilsame Rituale im Fasten. Das nämlich hat immer mehr bedeutet als den kurzen Verzicht aufs Essen. Es verstand sich als ein Innehalten in der routinierten Lebensbewegung, als Zeit der Ablenkungsfreiheit und Konzentration aufs Elementare. Die Erfahrung lehrt, dass Menschen, die gelegentlich das gewohnte Tun und Lassen unterbrechen, ihre Vorstellungskräfte zur Unterscheidung einsetzen zwischen dem, was ihnen wesentlich erscheint, und dem vielen anderen, das als vernachlässigbar identifiziert wird. Es braucht wenig Einbildung, um sich für einen heilsamen Moment ein verändertes Miteinander zu denken unmittelbar nach dem Ende der Epidemie. Auf sich zurückgeworfen zu sein, ist eine Voraussetzung, um entschlossen voranzukommen.

Gemeinsinn, Gemeinwohl

Solidarität in Zeiten großer Ansteckungsgefahr: Alle stehen zusammen, indem jeder bei sich bleibt.

Fass! Mich! Nicht! An!

Gesten der Abwehr bestimmen den Alltag. Statt sich zur Begrüßung die Hand zu reichen, strecken Menschen derzeit die Hände aus wie Schutzschilde zum Zeichen der Ablehnung von gewohnten Formen der Freundlichkeit. Auf Abstand gegangen soll gleichwohl in reduzierter Zugewandtheit die Begegnung gelingen; man scherzt über den Zwang zur Distanz, deutet Umarmungen an, entgegnet verlegen ein „Besser nicht“. Kontakte, von denen man in Phasen der Vernetzung nicht genug bekommen konnte, sind potentiell kontaminiert. Berühren und Begreifen, die in der Sprache im übertragenen Sinn Fähigkeiten der Seele und des Geistes bezeichnen, verlieren ihren faktischen sinnlichen Gehalt. Ob wirklich das Virus die Wende zur virtuellen Welt bringt, die Diagnose einer Krankheit die Digitalisierung beschleunigt? In den Texten des Testaments findet sich, lateinisch gewendet, das berühmte Noli me tangere, das übersetzt den Widerstand des Auferstandenen gegen die Betastung benennt, der Bedeutung nach aber heißt: Halte mich nicht auf. Den Satz bekommt Maria Magdalena zu hören, die erste Zeugin des Ostergeschehens (Joh. 20, 17), mit der Begründung, es fehle noch die letzte Bewegung, die Rückkehr zum Vater. Derselbe Evangelist erzählt wenig später allerdings auch vom Zweifler Thomas, der seine Finger in die Wunde legen durfte, um sich sinnfällig vom Wunder zu überzeugen. Beide Geschichten behandeln die Frage, ob durch die Körperlichkeit die Wahrheit des Unwahrscheinlichen zu ermitteln ist; beide behandeln sie unterschiedlich. Aber was erfährt Maria Magdalena, die nicht anfassen darf, anderes als Thomas, der berührt? In der Zelle des Florentiner Klosters San Marco hängt die Darstellung der Szene zwischen der Frau und dem Weltenerlöser, die ihr Fra Angelico gegeben hat. Man sieht zwei Gesichter, die einander hingebungsvoll anschauen, ohne auf Tuchfühlung zu gehen. Da fehlt nichts. Und doch: „Der Körper weiß Dinge, die wir nicht kennen.“ Braucht es also mehr als den Anblick? Paul Valéry setzt den Gedanken fort: „Und wir wissen Dinge, die er nicht kennt.“* Man könnte ergänzen: Gerade weil wir die unmittelbare Körperlichkeit ausgeschaltet haben (was von den Anthropologen stets als eine „Leistung“ des Menschen herausgestrichen wird). Es ist zu vermuten, dass, wie in jedem Verzicht, beides geschieht in der Abwehr des Anfassens: die Entdeckung, wie leicht sich auf andere Weise ergänzen lässt, was wir uns versagen, und die Erfahrung, wie sehr wir vermissen, was wir für den langen Augenblick einer weltumspannenden Infektion unterlassen. Und: dass eine Berührung ohne Geist arm ist, und ein Geist, der nicht berührt, flach.

* Werke 5, 356

Fra Angelico, Noli me tangere, Fresko, Florenz

Publikumswirksam

Über die Rolle des Publikums in der Arena, einer Ausstellung oder im Theater ist mannigfach geschrieben worden. Es sei der zwölfte Mann, heißt es bei der Mannschaft, die bei einem Fußballspiel des Heimrechts wegen sich zuverlässig auf die lautstarke Unterstützung durch tausend heisere Kehlen stützt. Dessen Applaus sei das Brot des Künstlers, mit dem auch gern die Honorarabteilungen der Bühnen kompensatorisch rechnen, wenn sie ihn bei der dürftigen Bezahlung der Schauspieler eingepreist haben. Nur im miesepetrigen Deutschland gilt der Schönspieler, der „für die Galerie“ seine Kabinettstückchen zeigt, als abschätzige Figur auf dem Sportfeld, als ob es nicht Lust und Freude bereitete, wenn mit dem Ball Verblüffendes gezaubert wird. Für wen das also alles geschieht? Ohne Zuschauer auf den Rängen, ohne das kaum unterdrückte Grummeln in den Reihen oder das eruptive Auflachen im Saal, das anerkennende Kopfnicken bei einer Vernissage ist die Darstellung des eigenen Könnens so unvollendet wie ein ungeküsster Schmollmund, dessen Lippen mit der Zeit spröde geworden sind. Das Publikum ist Teil des Spiels, wozu auch die heimliche Verachtung der Akteure gehört denen gegenüber, die nur zuschauen. „Ich meine, ganz unrecht hat ein Publikum ja nie“, schrieb schon Hugo von Hofmannsthal an Richard Strauss, zu dessen Opern er die Libretti beigesteuert hatte*. Geisterspiele, wie jetzt verordnet, nehmen dem Spiel den Geist.

* Briefwechsel, 112

Was die Qualität garantiert

In jeder Leistung steckt noch die Erinnerung an das, was zu überwinden war, damit sie sich einstellen konnte. In jedem Können, wenn es nicht zur blassen Routine verkümmert ist, lassen sich noch feine Spuren eines verzweifelten Nicht-Könnens finden, gegen das es hart anzukämpfen galt. Einer ist dann gut in seiner Arbeit, im Sport, in der Kunst, wenn deren Ergebnis die Geschichte einer gewaltigen Anstrengung und Bewältigung zu erzählen weiß. Ich kann das nicht – das mag ein Satz sein, der das Ende einer Auseinandersetzung mit Aufgaben anzeigt. Oder deren Anfang.

Ein offenes Wort

Wer rücksichtslos redet und nicht achtet, was zu hören erträglich ist, spricht, als hätten die anderen keine Nerven. Wer freimütig das Wort ergreift und um der Sache willen sich nicht beschränkt, bringt sie vor, als habe er selber keine Sensibilität. In Zeiten, in denen die Nerven blank liegen, braucht es Menschen, die ihre eigenen nicht zeigen. Nur so zieht Klarheit in die Krise ein, wenn die Schonungslosigkeit nicht korrumpiert wird von der Einfühlsamkeit und dennoch die Strenge nicht unbarmherzig ist.

Immunreaktion

Ein intaktes Immunsystem lernt. Es formt das Eigene in der Begegnung mit dem Fremden, indem es die Grenzen der Identität von innen her bestimmt. Nicht Flucht oder Abschottung, sondern der Reiz durch Neues, Unbekanntes, Äußeres, Überraschendes trägt zur Stärkung der Selbstübereinstimmung bei. Wenn es stimmt, dass Menschen eine ausgezeichnete Beziehung zum Offenen haben, dass sie die selbstgesetzten Beschränkungen mit Lust überschreiten, weil sie nur am intensivsten bei sich sind, wenn sie mehr sind, als nur bei sich, dann hilft die Abriegelung von den Ansprüchen und Anforderungen der Welt wenig. Auseinandersetzen heißt: sich aussetzen. Man kann nur rein bleiben, wenn man sich die Finger gelegentlich schmutzig macht. Ohne Risiko keine Freiheit. In einer Zeit, in der das Händewaschen, der Mundschutz, die Quarantäne von Regionen, die Verteidigung von Territorien und Landesgrenzen überaus virulent geworden ist, sollte nicht vergessen werden, wie wichtig es für die innere Stabilität eines biologischen oder sozialen Immunsystems auch ist, sich wohldosiert nach außen zu orientieren.