Monat: April 2020

Sichtbarkeit

Dass Sichtbarkeit mehr ist als der optische Eindruck, vermittelt sich, wenn die anderen Sinne, das Spüren, Riechen, gelegentlich das Schmecken weggefallen sind, weil einer auf Distanz gegangen ist. Das Innere eines Menschen, das für den Anderen aus guten Gründen so leicht nicht zugänglich ist, mag zunächst nichts sein als der Name für das, was fehlt, wenn das, was da ist, nur als Fassade wahrgenommen werden kann (wie derzeit in den ungezählten Videokonferenzen). Es gehört zu seinem Erscheinungsbild. Und es zu vermissen, beschreibt vor allem den Mangel an Gewissheit in der Kommunikation.

Ganz schön vermessen

Es ist sinnvoll, das Verb „vermessen“ stets in all seinen drei Auslegungsvarianten zu erproben, wenn man es gebraucht. Die Exaktheit, mit der eine Sache sich vorstellt, sobald sie in Zahlen ausgedrückt ist, verliert sich, wenn nach deren Bedeutung gefragt wird. Nicht selten ist es vermessen, etwas in seinen Eigenschaften für vermessen zu halten, auch wenn man sich nicht vermessen hat. Das Maß des Verstehens hängt an mehr als der quantitativen Bestimmung.

Haltung bewahren

Die Krise von A bis Z: Aushalten, Zusammenhalten. Das eine wird für viele ohne das andere nicht gehen.

Die Quellen der Schönheit

Man kann vermuten, dass eine der sprudelnden Quellen von Schönheit dort liegt, wo das Selbstbewusstsein umschlägt in die Selbstgefälligkeit. Und eine andere, wo das Selbstvertrauen seiner gerade noch nicht so bewusst ist, dass es sich mit Selbstsicherheit verwechselt.

Nachdenklichkeit

Schon das Präfix der Nachdenklichkeit verweist auf den Charakter dieser Art der Reflexion. Sie ist jenes Denken, das einsetzt, wenn die Ungewissheit einer Situation nicht beendet werden kann. Meist meldet sie sich in den Phasen der Krise, in denen das Handeln erschöpft pausiert, nach den unmittelbar nötigen Entscheidungen, im Spätstadium der Erstversorgung. Ihr Gestus ist die Vorsicht, ihre Grundhaltung der Zweifel. Nachdenklich sein heißt, den Fragen den Vorzug zu geben vor allen Antworten, die sich anbieten.

Wir Virologen

Zu den Organen, die das Virus verändert, gehört auch das Hirn, dessen Funktionen es nicht nur physiologisch beeinträchtigt. Es besetzt monothematisch die Begegnungen, verbreitet sich über die Übertragungsketten des Worts. Wo immer man hinkommt, hat sich der Erreger als Gesprächsstoff schon fest eingenistet in den Gedankenaustausch. Das geht so, seit die Tage ernst geworden sind. Jeder weiß zur Sache etwas beizutragen, viele wissen es besser, mancher erweist sich als rastloser Superspreader von gefährlich unbestätigten Informationen. Der dezent genervte Versuch eines Themenwechsels findet kaum freundliche Erwiderung; die Beiträge zur Unterhaltung sind allesamt massiv infiziert vom Krankheitskeim. Was das auslöst? Eine Sehnsucht nach sozialer Distanz, da die Sehnsucht nach überraschenden Inhalten nicht erfüllt wird. Das Virus schafft selbst die Voraussetzungen, dass es austrocknet, weil Menschen, die bei ihren Zusammenkünften nichts anderes mehr kennen, sich in der Lust erschöpfen, einander noch zu treffen.

Zweitausendfünfhundert*

Der Aphorismus ist ein langer Gedanke in einem kurzen Satz.

* Dies ist das 2500. Stück in den „Täglichen Notizen“. Die anderen 2499 Texte finden Sie am unteren Ende der Seite im Archiv oder jeweils am Ende der Seite „Notizen“ über den Link „Ältere Beiträge“. Mit der Wortmenge ist auch die Zahl der Leser über die Jahre gewachsen, die die Veröffentlichung regelmäßig verfolgen. Ihnen sei Dank für das Interesse und Mitdenken. Der Chronist freut sich, wenn seine kleinen Beobachtungen zur Zeit weiterhin ein wachsendes Publikum finden. Verweisen Sie. Verschicken Sie. Verlinken Sie. Wenn Sie mögen … 

Die Sache der Menschen

Wenn Menschen verspielt sind, nehmen sie die Sache, um die es geht, nicht ernst; wenn Sachen verspielt werden, wird es für die Menschen, die sie angeht, meist ernst.

Bestandsschutz

Neben Mund- und Nasenschutz rückt in diesen ernsten Tagen der Bestandsschutz in den nüchternen Blick, der zu neuerungstrunkenen Zeiten verräumt worden war. So viel gerät plötzlich in den Verdacht, systemrelevant zu sein, das sich zuvor bequem in den unauffälligen gesellschaftlichen Nischen eingerichtet hatte, dass dabei die gut belegte Erfahrung, wirklich erst zu wissen, was man braucht, wenn man es nicht mehr findet, und die nicht minder oft bestätigte Entdeckung, dass man es doch nur vor der eigenen Nase suchen müsse, was mit einer verrutschten Maske, die man nicht anfassen soll, keine elegante Übung ist, dass also Wichtiges sich nicht selten erst im Verlust zeigt, diese Einsicht verschwindet hinter dem strengen Eifer für unbedingt Erhaltenswertes. Was wir nötig haben? Wir merken es meist daran, dass wir nach ihm vergeblich im Reisegepäck wühlen, weil es zu Hause vergessen rumliegt. Und sind wenig später erleichtert, es gar nicht zu brauchen. So mancher schwärmt derzeit heimlich von der Krise als einer Phase, die uns lehrt, auf Wesentliches zu achten und den unnützen Alltagsschmodder zwangsläufig loszuwerden. Doch Vorsicht. Am Ende dieser Entwicklung zur ballastarmen Existenz steht das nackte Leben.

Weitsichtig

Mehr sehen als andere, das ist der Anspruch dessen, der eine Perspektive vermitteln will, und bedeutet, wenn er nicht gleich unter den Verdacht fällt, Visionär zu sein, schlicht: besser denken. Zwei metaphorische Sätze bestimmen den Umgang mit der Krise derzeit: „Wir fahren auf Sicht“, und: „Wir stehen erst am Anfang.“ Sie schließen einander aus, weil eine Bestimmung der Position immer voraussetzt, auch anderes im Blick zu haben als nur das nächste Umfeld. Wer mit Gewissheit zu sagen vermag, dass eine Sache erst begonnen habe, muss ein Bild besitzen von der Entwicklung im Ganzen. Das nicht nur zu benennen, sondern daraus Handlungen abzuleiten, ist die Pflicht, die sich aus der besonderen Eigenschaft ergibt, die Anfänge auszeichnet: Sie sind stets der Zeitpunkt größerer Möglichkeiten.

Die Grenze der Freiheit

Die Grenze der Freiheit verläuft genau dort, wo die Anerkennung des Anderen und der Respekt vor sich selbst zur Alternative gerät.

Weit weg, ganz nah

In jeder Erinnerung steckt ein Schmerz, auch in der schönen. Den heiteren Rückblick trübt der Verlust der Gegenwart.

Die Zeit, als Subjekt betrachtet

Eine Revolution bricht aus, weil die Geschichte die Geduld verloren hat mit denen, die sie allzu langatmig verantwortlich betrieben. Wären sie schnell genug gewesen, käme es nicht zum Umsturz. Dem Menschen, als dem Subjekt seiner eigenen Gegenwart, wird die Gestaltungsrolle entzogen; er taugt nicht mehr für den neuen Gang der Dinge, seine Umständlichkeit hindert ihn, das Tempo des aufkommenden Zeitalters mitzugehen. Wofür er Jahre gebraucht und seine Sache doch nicht zur Vollendung gebracht hat, dafür benötigt die Zeitenwende nur kurze Spannen. Und lässt den trödelnden Zeitgenossen sich als Objekt ihres Interesses spüren. Krise, auch wenn das Wort ursprünglich den heiklen Punkt in einem Krankheitsverlauf markiert, benennt den Kampf des Menschen, wieder Herr seiner Zeit sein zu können.

Den Faden verlieren

Ein Denken, das umherschweift, gewinnt neue Gegenstände seines Interesses. Ein Handeln, das abirrt, verliert sich selbst.

Ausnahmezustand

Die wichtigste Regel der Ausnahme von den Regeln bestimmt, wie die Ausnahme regelgerecht ihr Ende findet. Wenn die Ausnahme sich mit dem Aufschub verbündet, wird sie selber zur Regel. In ihrer Tendenz zur Beständigkeit verrät sie sich selbst. Die ideale Form der Ausnahme ist daher keine spezifische Wirklichkeit, in der Regeln außer Kraft gesetzt sind, sondern dass sie als eine Vorstellung taugt, die deutlich macht, warum Regeln überhaupt nötig und diese Regeln geboten sind. Vor der Ausnahme flüchten Menschen sich in Regeln. Die Ausnahme ist das, was das Reguläre rechtfertigt.

Demut

Das ist das Schwierigste für den Hochbegabten: sich in den Dienst stellen.

Mechanische Medizin

Aus der Mechanik kennen wir die Metapher „In Gang setzen“. Sie bedeutet zweierlei: reparieren, was kaputt gegangen ist; und: in Bewegung bringen. Dass das oft ein und dasselbe ist, eine Sache in Ordnung bringen und das Vorankommen, Heilung und Fortschritt, erfährt eine Gesellschaft, deren Hyperdynamik ihr leicht zur Selbstüberforderung gereicht und deren Steigerungsdrang ihr von interessierter Seite schnell zum Vorwurf gemacht wird, wenn Menschen gezwungen sind stillzuhalten. Der Stillstand verbaut Wege, wohingegen das, was so ähnlich klingt, das Innehalten, neue Perspektiven eröffnet. Innehalten meint, die Souveränität über die Stagnation wiederzugewinnen. Oder besser noch: sie nie zu verlieren.

Magie des Worts

Ostern V (Emmausgeschichte)

Die Magie, die Menschen der Sprache schon immer zuschrieben, rührt aus der Begeisterung über die Fähigkeit, mit der Stimme auf Abstand Wirkungen erzielen zu können, Abwesendes erscheinen zu lassen, als sei es anwesend, Unbestimmtes so genau zu bezeichnen, dass es fassbar wird. Dazu gehört auch, dass solche Worte vertraute Gesten ersetzen können, weil an sie feste, lebendige Erinnerungen geknüpft sind, so dass gerade in Zeiten der Distanz ein einziges Zeichen im Gespräch genügt, um in die bildkräftige Präsenz einer gemeinsamen Geschichte versetzt zu werden. Kraft des Worts: das gelingt nur, weil das Wort selber Kraft ist.

Fürchte dich nicht

Ostern IV

Der Gottesgruß „Fürchte dich nicht“*, mit dem die Erzählungen des Testaments jene Ereignisse anzeigen, in denen geschieht, was die Vernunft nicht mehr in ihrem Entängstigungsrepertoire bereithält: dass das ganz und gar Unmögliche plötzlich wirklich und wirksam wird, findet seine Entsprechung im Glaubensbekenntnis. Ich glaube, das bedeutet vor allem anderen: ich fürchte mich nicht. Hilf meinem Unglauben, das meint kaum, den Mangel an Überzeugung zu beheben, als die Bitte: nimm mir die Sorge. Denn das Gegenteil von Vertrauen heißt schon lange nicht Misstrauen, sondern Angst.

* Fast hundert Mal findet sich der Satz in beiden Testamenten, prominent in der Weihnachtsgeschichte und den Osterberichten, und will dort weniger gelesen werden als bewährtes Trost- oder Ermutigungswort, sondern ist ein Indiz für das, was theologisch „Offenbarung“ genannt wird. Nun ist Furchtfreiheit für Menschen, sofern sie empfinden, selber einigermaßen unwahrscheinlich, so dass das, was wie ein Appell daherkommt und vor die Gottesbegegnung gestellt ist: Fürchte dich nicht! wohl nur als Zubereitung und Zuspruch zu verstehen ist.

Unsichtbar

Ostern III (Karsamstag)

Mit der Gefährdung durch Unsichtbares leben, das die Lebenswirklichkeiten einschneidend verändert: der religiöse Mensch weiß, was das bedeutet.

Zeichen für die Zeit

Ostern II (Karfreitag)

Das Paradox der Kreuzesbotschaft: Nur der kann grenzenlos helfen, der absolut hilflos war.

Das letzte Abendmahl

Ostern I (Gründonnerstag)

Abschiedsszenen: Wenn Menschen gehen, hinterlassen sie etwas, im besten Fall eine schöne Erinnerung. Wenn Gott geht, hinterlässt er sich und stiftet, wie es in den Texten über das letzte Abendmahl nach alter Weise heißt, ein Gedächtnis. Was den Unterschied ausmacht? Hier ist die Reminiszenz lebendig; dort bekommt der Lebendige Resonanz.

Leonardos Abendmahl im Zeitalter sozialer Distanzierung: Gefeiert wird über das Konferenzmedium „zoom“

Legitimität

Das berühmte Böckenförde-Diktum, nach dem der „freiheitliche, säkularisierte Staat … von Voraussetzungen (lebt), die er selbst nicht garantieren kann“* beschreibt das Risiko der Demokratie, die zwar als Rechtsordnung ihre Funktionen sicherstellt – die Verlässlichkeit von Gesetzen, die Verfolgung von Straftätern, den Schutz der Privatsphäre –, aber auf einer Grundordnung ruht, deren Anerkennung von der Einsichtsfähigkeit der Einzelnen abhängt. Das Recht selber kann nicht die Frage beantworten, warum es sinnvoll ist, sich an das Recht zu halten. Alle Formen des demokratischen Staats führen zurück auf jenes informelle Selbstverständnis, nach dem Freiheit danach strebt, sich mit anderen sinnvoll zu arrangieren. Das ist nicht einklagbar. Allerdings muss man sich gelegentlich darauf berufen, vor allem dann, wenn nicht darüber abgestimmt werden kann, ob fundamentale Rechte auszusetzen oder einzuschränken sind. Die Entscheidung ist in dem Maße legitim, wie sich Freiheit in deren wirksamen Folgen wiedererkennt.

* Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: Ders., Recht, Staat, Freiheit, 112

Wir Meister der Illusion

Sobald die Fakten sich leicht ins Positive kehren, fangen die Menschen schon wieder an, heftig zu träumen.