Tag: 2. Mai 2020

Hindernislauf durch die Krise

Der allenthalben beschworene Gemeinsinn, die Achtung des Anderen, die Zuwendung zum Schwächeren, die Sorge um die Kranken, all diese feinen Zeichen der Solidarität werden, noch heimlich, verdrängt vom Wettbewerb um die beste Ausgangsposition nach der Krise. Welches Land kommt eleganter durch? Welche Region hat die wenigsten Angesteckten? Welche Stadt kann sich zuerst als virenfreie Zone erklären? Wer ist rasch und ohne tiefere Blessuren in der neuen Normalität angelangt, die alles sein darf, nur nicht Alltagsnorm? Längst dienen die täglichen Zahlen der Neuinfizierten, der Genesenen, der leeren Krankenhausbetten, als Ausgangspunkt für den Vergleich mit denen, die es nicht so gut hinbekommen. Und es wächst unter vielen, die meinen, der Zeitenunbill getrotzt zu haben, eine fatale Einsicht heran, die sich noch als Frage tarnt: Könnte es sein, dass die Formen der Beschränkung und Beschrankung, soziale Distanz, Barrieren zwischen Nachbarstaaten und das strikte Besuchs- oder Reiseverbot, mehr sind als nur die harten Reaktionen auf einen Krankheitsnotstand? Könnte die Wiederentdeckung der Grenze, die Kleinteiligkeit der Handlungen, die Verengung des Horizonts nicht der Grund sein für die eigene Überlegenheit? Das ist die eigentliche Ansteckungsgefahr: dass die Angst aller jeden auf sich zurückwirft.