Monat: Juni 2020

All In

Beim Poker geht voll ins Risiko, wer all seine Chips setzt in der Gewissheit, zu diesem Zeitpunkt das beste Blatt, oder der Verzweiflung, keine andere Chance mehr zu haben: das All In. Solche Situationen, in denen alles auf dem Spiel steht, pressen das Gefühl höchster Unabhängigkeit und das Empfinden totalen Ausgeliefertseins in eine kaum erträgliche Anspannung. Es ist der seltsame Augenblick, in dem Freiheit und Zwang ein ununterscheidbares Los darstellen. Gewinnen und Verlieren scheinen dasselbe zu sein, weil alles nur noch nach der Erleichterung durch eine Entscheidung strebt.

Zeitgenosse

Vielleicht ist Unzufriedenheit nichts anderes als ein schlechter Umgang mit Zeit. Sie stellt sich ein, wenn Dringliches nicht schnell genug erledigt werden kann, wenn Bedürfnisse ihren Frieden nicht finden, weil sie zu lang warten müssen auf Erfüllung, wenn der verpasste Moment sich im Nachhinein als der rechte Augenblick vorstellt, der nicht ergriffen wurde. Sie erfasst den Frühaufsteher, der verschlafen hat, und den Morgenmuffel, der aus dem Schlaf gerissen wurde. Sie nistet sich ein ins Leben als lästiger Dauerzustand, als leeres Gefühl, sich selbst enteilt zu sein, als Missmut, einer Vorstellung hinterherhinken zu müssen, von der sich nicht einmal genau sagen lässt, was sie auszeichnet. Unzufrieden ist, wer meint, seiner eigenen Zeit böse sein zu sollen. Bitter, wem es nicht glückt, zum Zeitgenossen zu werden.

Maskenpflicht

Durch das gut besetzte Großraumabteil dröhnt per Lautsprecher die strenge Stimme des Zugchefs, der die Reisenden an die Maskenpflicht erinnert, zum Schutz vor sich selbst und aus Rücksicht auf die Mitfahrer. „Bleiben Sie gesund!“ Die Hälfte der Nebenmenschen, die sich die Umluft aus der schwach arbeitenden Klimaanlage teilen, trägt die lästige Mund- und Nasenbedeckung, manchen hängt sie lässig am Handgelenk, zu viele ignorieren die Aufforderung. Als die Fahrkarten kontrolliert werden, sind plötzlich fast alle Gesichter hinter Stoff verborgen. Nur eines nicht. Die Schaffnerin verzichtet auf das Utensil und ruft zwischen die Reihen: „Hier ist die Luft zu stickig. Sie können die Masken abziehen.“ Verblüfft darüber, dass man die Ansprüche nur senken muss, um die Moral zu heben, reagiert niemand. Und auch nach dem Ticketcheck bleiben die Tücher hochgezogen. Manchmal reicht Absurdität, die Menschen zur Raison zu bringen.

Urlaub in Krisenzeiten

Das begehrteste Reiseziel hat seine Grenzen noch geschlossen: das Land des Vergessens.

Schnelldenker

Nicht jeder langsame Denker ist gründlich, nicht jeder schlagfertige Kopf ein wacher Geist. Aber die Bedächtigkeit vermag den schnellen und sprühenden Verstand zu prüfen, wohingegen Akribie und Akuratesse durch Esprit und Phantasie selbst in ihrem eigenen Talent überboten werden: der Tiefe.

Niemand will es gewesen sein

Einer der Krisengewinner ist der Feigling. Nichts war leichter für ihn in Zeiten des Präsenzmangels und sozialen Abstands, als heimlich und unentdeckt zu handeln. Wie viele Entscheidungen sind in den vergangenen Wochen getroffen worden, deren Folgen sich niemand stellen musste, weil keiner da war, vor dem man sich zu rechtfertigen hatte. Und wie viele Entschlüsse sind nicht gefällt worden, die man schlicht dem Gang der Dinge meinte überlassen zu können, weil keiner sie einforderte oder Beratungsinstanzen sich nicht einfinden konnten. Verantwortung ist doch mehr als ein Zuständigkeitsvermerk und hängt unmittelbar am Risiko einer Begegnung mit dem, dem man eine Erwiderung und Reaktion zweifelsfrei schuldig wäre.

Ohne Zweifel

Das geschickteste Mittel, eine Gewissheit zu erschleichen, ist, eine Frage für beantwortet auszugeben, indem man partout vermeidet, sie zu stellen. Sie zu erledigen, meint hier, sich ihrer still zu entledigen. Die Atemlosigkeit so mancher Politiker in ihren Reden rührt genau daher: weniger weil es so unermesslich viel zu sagen gäbe, sondern um nur keinen Zweifel aufkommen zu lassen zwischen zwei Sätzen.

Wechselnde Mehrheiten

In der Demokratie des Lebens kommt es nur selten zu einer großen Koalition zwischen Ich und Wirklichkeit. Meist steht die Wirklichkeit in der Opposition und das Ich regiert. Im umgekehrten Fall sind die Niederlagen schmerzhaft.

Problematisch

Ein Problem verstehen heißt, es selber als eine Lösung anzusehen, die nicht aufgegangen ist.

Schöne Seele

Die Schönheit der Seele hat einen Namen: Gute Laune.

Ichlinge, inmitten einer Intrige

Die meisten Intrigen dienen der Ablenkung vom eigenen Ego, das sich sonst nur mit der unerfreulichen Anschauung auseinandersetzen müsste, wie klein es ist und wie wenig es bewirkt. In Hinterlist und Heimtücke heuchelt der Ichling eine Macht, die sich weder auf ein Subjekt stützen kann, noch ein Objekt erschafft.

Einen Bogen machen

Die „komische Zeit“, so genannt von ihren Genossen, die, wenn sie Politiker sind, auch von der „neuen Normalität“ sprechen, macht sich bemerkbar, indem sie sich zunächst kaum bemerkbar macht, auch wenn das Bewusstsein von ihr allenthalben präsent ist. Die Städte und mit ihnen die Zufahrtswege sind wieder voll; die Parks leerer. Vieles scheint sich wie vor der Zäsur eingespielt zu haben: Verabredungen im Freundeskreis, Reisen zu Terminen, der schnelle Einkauf ohne Einlasskontrolle. Und doch bleibt das Unbehagen überall dort, wo Menschen einander begegnen. Die Masken, die manche selbst außerhalb geschlossener Räume tragen, signalisieren den Umweg, den zu gehen wir bereit sind. Um den anderen wird ein Bogen gemacht, der Lauf mäandriert, die Direktheit ist zu meiden. Es könnte ja unter all den Fremden doch noch einer sein, der Viren schleudert. Das Unbehagen verschwindet nicht, auch wenn die Umstände sich geändert haben. Wo ehedem die unsichtbare Bedrohung vorherrschte, leiten nun, trotz sichtbaren Wandels, Vorsicht und Vorbehalt wie getarnte Wegweiser diskret durch den Alltag. Die „neue Normalität“ ist gekennzeichnet vom Vorrang des Misstrauens gegenüber jeder Form der Arglosigkeit und schönster Unbedarftheit. Und der Sorge, dass jedes Treffen eine, wie es in der neuen Warn-App heißt, „Risiko-Begegnung“ sei. Was den Charakter von Begegnungen allerdings schon immer zutreffend beschrieben hat: dass die Offenheit für den anderen nicht ohne Folgen bleibt, auch wenn sie nicht gleich zur Gefahr für das Eigene werden muss.

Wahrheit und Freiheit

Die befreiende Wirkung, die der Wahrheit zugeschrieben wird, rührt daher, dass, sobald auf Lüge und Täuschung verzichtet wird, fortan die Sache für sich selber sprechen kann.

Leistungsprinzip

Es ist eines der Grundübel unserer Zeit, vor allem, weil es maßlos ausgenutzt wird, dass Menschen meinen, Anerkennung nur zu verdienen, wenn sie genug geleistet haben. Dabei ist es oft doch umgekehrt: die größte Lust an der Leistung entsteht, wenn sie in vorgegebener Anerkennung gründet. Auch wenn es ähnlich anmutet, klafft ein tiefer Unterschied zwischen der Fähigkeit, Wert zu schaffen, und dem Faktum, wertvoll zu sein.

Mehr Gerechtigkeit

Sehr zum Schaden der Gerechtigkeit wirkt, dass die Forderung nach ihr nicht selten von Leuten vorgebracht wird, die sie im Ton der Selbstgerechtigkeit vortragen.

Schlechte Sicht

Der allzu intensive Blick in die Zukunft weitet den Horizont, aber trübt das Sehen ein. Wer ihn vom Vergangenen leiten lässt, erkennt scharf, aber verengt sein Sichtfeld.

Das Gesicht spricht

Hinter der Maske, dem behördlich verordneten Mund- und Nasenschutz, der nicht Mund und Nase schützt, sondern vor deren gefährlichen Emissionen, verschwindet nicht nur das Mienenspiel. Die Worte klingen gedämpft, gelegentlich dumpf; und mit ihnen das Gesagte. Wie viele feine Nuancen gehen, gefiltert vom Zellstoff, verloren; manche Anrede erscheint harscher, als sie gemeint war. Der Witz kommt nicht zur Geltung. Die Zwischentöne, von denen Ironie und Hohn, aber auch der Flirt und der augenzwinkernde Unernst unmittelbar leben, müssen sich neue Ausdrucksformen suchen. Weil das Gesichtsfeld eingeschränkt ist, das nicht nur das Sehen umfasst, sondern auch das Gesehenwerden, wird auch die Welt ärmer.

Komm schon!

Der Fußball ohne Zuschauer ist ein Lehrstück der Eigenmotivation. Es gewinnt, bei nahezu gleicher Qualität der Mannschaften, wem die Niederlage so zuwider ist, dass er sie partout vermeiden will, und wenn sie sich schon hat nicht verhindern lassen, dass er sie um jeden Preis vergessen (machen) will. Der Ärger über das Misslingen ist da stärker als die Angst vor dem Fehlschlag. 

Heiß gehandelt, kalt investiert

Die Börse ist der wundersame Platz, an dem die Logik des Markts sich besonders kühl zeigt, wenn der Handel von Wertpapieren heiß gelaufen ist.

Spiel und Ernst

Im Vorspiel kündigt sich an, dass es mit dem Spiel ernst wird.
Das Nachspiel zeigt, dass in jedem Spiel der Ernst lauert.

Maskenträger

Die besten Verstecke für die eigene Charakterlosigkeit und seelische Deformation, für Amoralität, Niedertracht, Schurkerei und Gemeinheit finden sich in Ethikkommissionen, Kirchen, an der Spitze von philanthropischen Stiftungen oder humanitären Organisationen.

Alter, was geht ab?

Die größte Faszination des Neuen ist, mit welcher Unbekümmertheit es über Gewohntes hinweggeht. Nie ist es neuer als in dem Augenblick, da es das Vertraute rücksichtslos für alt erklärt. Von da an fürchtet es nur noch, dass es einst dasselbe Los ereilt.

Toleranz

Im Sprachgebrauch von Toleranz steckt noch jene angestrengte Überwindung von Abneigungen und der Ablehnung, die am Ende aus der Vorsicht gegenüber Fremden und dem Widerwillen gegenüber anderen deren Anerkennung hat wachsen lassen. Dass einer eine Sache toleriert oder einer unvertrauten Überzeugung Respekt zollt, heißt aber noch lang nicht, dass er auf sie eingeschwenkt ist. Duldung ist eine Minimalakzeptanz; zwischen gleicher Geltung und Gleichgültigkeit besteht mehr als nur phonetische Verwechslungsgefahr. Was in gesellschaftlich unauffälligen Zeiten den Spielraum der Freiheit markiert, das Recht aller, fremd sein und anderes denken zu können, hat in politisch unruhigen Phasen den Hang, zur Pflicht zu mutieren, die eigene Position zugunsten der auch inhaltlichen Solidarität mit den Unterdrückten zu verlassen. Dabei ist die Vorstellung der Toleranz gerade der Versuch, Unterschiede lebbar und erlebbar zu machen, weil die Gleichheit deren Grundlage ist, auf die es zu setzen und an die es zu erinnern gilt. Der Ort der Toleranz liegt nicht selten jenseits des Streits, der um sie geführt wird.

Ich, Ich, Ich

Das Ende des Narzissten: Er, dem alles und jeder schnell lästig ist, wird sich, von allem befreit, selbst zur Last.