Tag: 8. Juni 2020

Toleranz

Im Sprachgebrauch von Toleranz steckt noch jene angestrengte Überwindung von Abneigungen und der Ablehnung, die am Ende aus der Vorsicht gegenüber Fremden und dem Widerwillen gegenüber anderen deren Anerkennung hat wachsen lassen. Dass einer eine Sache toleriert oder einer unvertrauten Überzeugung Respekt zollt, heißt aber noch lang nicht, dass er auf sie eingeschwenkt ist. Duldung ist eine Minimalakzeptanz; zwischen gleicher Geltung und Gleichgültigkeit besteht mehr als nur phonetische Verwechslungsgefahr. Was in gesellschaftlich unauffälligen Zeiten den Spielraum der Freiheit markiert, das Recht aller, fremd sein und anderes denken zu können, hat in politisch unruhigen Phasen den Hang, zur Pflicht zu mutieren, die eigene Position zugunsten der auch inhaltlichen Solidarität mit den Unterdrückten zu verlassen. Dabei ist die Vorstellung der Toleranz gerade der Versuch, Unterschiede lebbar und erlebbar zu machen, weil die Gleichheit deren Grundlage ist, auf die es zu setzen und an die es zu erinnern gilt. Der Ort der Toleranz liegt nicht selten jenseits des Streits, der um sie geführt wird.