Tag: 19. Juni 2020

Einen Bogen machen

Die „komische Zeit“, so genannt von ihren Genossen, die, wenn sie Politiker sind, auch von der „neuen Normalität“ sprechen, macht sich bemerkbar, indem sie sich zunächst kaum bemerkbar macht, auch wenn das Bewusstsein von ihr allenthalben präsent ist. Die Städte und mit ihnen die Zufahrtswege sind wieder voll; die Parks leerer. Vieles scheint sich wie vor der Zäsur eingespielt zu haben: Verabredungen im Freundeskreis, Reisen zu Terminen, der schnelle Einkauf ohne Einlasskontrolle. Und doch bleibt das Unbehagen überall dort, wo Menschen einander begegnen. Die Masken, die manche selbst außerhalb geschlossener Räume tragen, signalisieren den Umweg, den zu gehen wir bereit sind. Um den anderen wird ein Bogen gemacht, der Lauf mäandriert, die Direktheit ist zu meiden. Es könnte ja unter all den Fremden doch noch einer sein, der Viren schleudert. Das Unbehagen verschwindet nicht, auch wenn die Umstände sich geändert haben. Wo ehedem die unsichtbare Bedrohung vorherrschte, leiten nun, trotz sichtbaren Wandels, Vorsicht und Vorbehalt wie getarnte Wegweiser diskret durch den Alltag. Die „neue Normalität“ ist gekennzeichnet vom Vorrang des Misstrauens gegenüber jeder Form der Arglosigkeit und schönster Unbedarftheit. Und der Sorge, dass jedes Treffen eine, wie es in der neuen Warn-App heißt, „Risiko-Begegnung“ sei. Was den Charakter von Begegnungen allerdings schon immer zutreffend beschrieben hat: dass die Offenheit für den anderen nicht ohne Folgen bleibt, auch wenn sie nicht gleich zur Gefahr für das Eigene werden muss.