Monat: August 2020

Lebenslanges Lernen

Erster didaktischer Hauptsatz: Der lernt nichts mehr, der zu wissen meint, wie es geht.

Anschauungsunterricht

Keine Verschwörungstheorie hält sich damit auf, die Welt erst anzuschauen, bevor sie behauptet, sie zu durchschauen. Was sie im großen Stil betreibt, ist schon im persönlichen Verhältnis destruktiv: zu erklären, ohne verstehen zu wollen.

Kategorischer Imperativ

Die große Leistung des kategorischen Imperativs, den Immanuel Kant zum maßgeblichen Kriterium einer vernünftigen Handlung bestimmt hat, ist, dass er von der Moral alle Angst und Engstirnigkeit, den Machtdünkel und die Kleingeisterei entfernt. Und dass er sie adelt als Heimstatt für eine Freiheit, die sich ihrer eigenen Verantwortung bewusst werden will.

Zeitverhältnisse

Chrono-Logik des Lebens: Gestern war mehr Morgen als heute.
Psycho-Logik des Lebens: Ein Heute ohne Gestern hat kein Morgen.
Mono-Logik des Lebens: Ob gestern oder heute oder morgen, spielt keine Rolle.
Öko-Logik des Lebens: Heute ist die Stunde des Morgen, in der die ewig Gestrigen zur Vernunft gebracht werden müssen.

Ein Schwabe in Berlin

Was Dialektik ist und wie nahe sie dem Witz verwandt, mögen zwei Anekdoten veranschaulichen, die über Hegel erzählt werden, den Erfinder der modernen Systemtheorie, dessen 250. Geburtstag heute gefeiert wird.
Ernst Bloch gibt einen Satz wieder, den Hegel anlässlich einer Gesellschaft in Berlin seiner Tischdame gesagt haben soll, die den berühmten Philosophen auf sein Werk angesprochen hatte: „Was in meinen Büchern von mir ist, ist falsch.“* Da haben sich Demut und Überheblichkeit zur Unkenntlichkeit vermischt; die Sache selbst, so die leicht abweisende Bemerkung, habe den Fortgang der Gedanken befördert, als dessen Diener der Denker sich verstand. Wer mochte da noch nach Erklärungen suchen oder gar widersprechen? Die Last des Weltgeists drückte den Philosophen, der seine Arbeit gelegentlich als Verdammnis Gottes empfand.
In dieses listige Selbstbewusstsein passt eine Geschichte, die Heinrich Heine überliefert: „Als Hegel auf dem Todbette lag, sagte er: ,nur Einer hat mich verstanden‘, aber gleich darauf fügte er verdrießlich hinzu: ,und der hat mich auch nicht verstanden‘.“**

* Subjekt-Objekt, 394
** Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland, Sämtliche Schriften, Dritter Band, 608

Hey, du da

Anders als das professionelle Du, das Hemmschwellen im kollegialen Umgang und Hierarchien abzubauen helfen soll, ist das private Du dann näher am Sie, wenn es Respektgrenzen, die geboten sind, achtet oder einfordert. Es strengt an, den Unterschied zwischen einer Vertrautheit, die als plump empfunden wird, der Zartheit eines echten Vertrauens und der Verschwiegenheit, die im Vertraulichen gründet, jederzeit angemessen zu wahren, ohne dass formale Zeichen diskrete Hinweise geben, wie es die sprachlichen Distanzformeln tun. Im klein geschriebenen „du“ oder „ihr“, das als Anrede gewählt schnell den Straßenjargon mitklingen lässt, sind die feinen Differenzen dann ganz aufgegeben.

Wen die Krise entlarvt

Jede Krise lässt sich auf eine Form reduzieren: Sie ist die in der Regel schmerzhafte Erinnerung an jene Wirklichkeiten, die allzu oft sträflich unbeachtet geblieben sind. Man kann sie verstehen, als brächte sich eine Welt zwingend zurück ins Gespräch, das mit seinen Verdrängungen und Träumereien, Fiktionen und falschen Einstellungen für sie keinen Raum mehr offengelassen hat. Der erste Gewinner in solchen Zeiten sind nicht die Versprechen auf bessere Momente – die werden, als meist trügerische, entlarvt –, sondern der Realitätssinn. Nur dass dieser Sieg des Lebensernsts nicht ausgekostet werden kann.

Erfolgsprämie

Am Ende sind die Siege am schönsten, die auch hätten eine Niederlage sein können.

Ausreden

Wie die Annonce „wegen Corona“ nicht nur die erschrockene Erklärung für Krankheitsfolgen darstellt, sondern allzu oft als schnelle Ausrede in unbequemen Zeiten herangezogen wird, so ist das „digitale Angebot“ in bislang traditionellen Begegnungsräumen nicht allein die Entdeckung von neuen Sozialformen, sondern nicht selten eine verlockende Sparsamkeitsvariante, die sich als fortschrittlich tarnt. Eine belastbare Bilanz lässt sich nur ziehen, wenn die Frage beantwortet werden kann, wie hoch der Verlust ist durch das, was man hinzugewonnen hat.

Formfaktor

Kunst, die für Schönheit schwärmt, schwächelt im Ästhetischen. Ihr höchstes Leistungsniveau erreicht sie über Formstrenge und Materialwahl. Mit nichts verrät sie sich an die Menschen so sehr wie mit der Lust zu gefallen. Aber in nichts erscheint sie auch menschlicher als in der Achtung vor dem „bloß“ Äußerlichen, das sich eine Blöße gerade nicht gibt. Es ist der Respekt vor der Öffentlichkeit, die den Künstler auffordert, sie mit sich nicht zu behelligen und hinter sein Werk zu treten. Wer Authentizität sucht, gehört nicht auf die Bühne; wer Echtes erleben will, darf sich nicht ins Publikum verirren.

Bin gerade nicht flüssig

Es gehört zum Wesen des Geldes, dass es flüssig bleiben muss, aber nie überflüssig sein kann. Denn es repräsentiert die Größe der Möglichkeiten, von denen nur der notorisch Unentschlossene zuweilen meint, es existierten davon zu viele. Gibt es überzählige Chancen? Der Freiheitsliebende muss das verneinen. Jedes Geschenk aus einem überreichlichen, vielleicht entbehrlichen Vermögen bedeutet einen Verzicht, der in dem Maße gerechtfertigt sein kann, wie er nicht erzwungen ist.

Weg damit!

Es tut gut, sich stets daran zu erinnern, dass der andere Name für „hoffnungslos“ lautet: erneuerungsbedürftig. Eine verordnete Nachrichtenabstinenz für ein paar erholsame Tage, in denen der Gewöhnungseffekt ans Katastrophische, Verlogene, Aussichtslose, Aufgeblasene aussetzt, steigert die Empfindsamkeit für das, was in der Welt geschieht und als berichtenswert ausgewählt wurde. Es muss ihr schlecht gehen, ist die erste Diagnose. Aber die zweite Reaktion kann nur heißen: es ist die meine. Mit der darf keiner so umgehen.

Festzeiten im Kalender

Es gibt ein sicheres Kennzeichen für die Qualität von Ausnahmen: wenn nach den Festzeiten im Kalender, den Ferien oder Feiern, die Vorfreude auf den Alltag größer ist als die Reminiszenz an schönste Stunden. Lebenskraft spüren wir in dem Maße, wie die Erwartungen die Erinnerungen übertrumpfen.

Ein großes Herz

Im berühmten Questionnaire, den Marcel Proust zweimal ausgefüllt hat, heißt es: Welche Fehler entschuldigen Sie am ehesten? Die Frage sucht nach Differenzierungen, nicht nur im Misslingen und misslichen Handeln, sondern auch in den Formen der Nachsicht. Sind Fehler, die aus Versehen begangen werden, aus Naivität oder Unachtsamkeit, gar aus Liebe, weniger schwerwiegend als jene Untaten, die im vollen Bewusstsein, mit Vorsatz, aus Mutwillen geschehen? Das Recht unterscheidet hier, manche Moral klassifiziert und hierarchisiert. Aber auch die Verzeihung? Paul Ricoeur spricht einmal vom „schweren Verzeihen“* und meint den Ernst eines Akts, der auf die Tragik der Verfehlung antwortet. „Hier berührt sich das Verzeihen mit dem aktiven Vergessen: nicht mit dem Vergessen der Tatsachen, die wirklich unauslöschlich sind, sondern mit dem Vergessen ihrer Bedeutung für Gegenwart und Zukunft.“** Zu ihm gehört, dass es immer größer ist als alles, was seiner bedarf, um die Lebendigkeit einer Beziehung nicht nachwirkend zu zerstören. Und dass es nur eine Unterscheidung kennt, die zwischen jenen, die um Entschuldigung bitten, und jenen anderen, die sie einfach nur nötig haben.

* Vgl. Das Rätsel der Vergangenheit, 153ff.
** aaO. 155

Der arrogante Aphorismus

Die Arroganz des Aphorismus besteht darin, dass er sich anmaßt, keinen Text zu brauchen, sondern den Anspruch erhebt, in einem Satz alles zu sagen. Er sucht nicht das Gespräch, sondern die Überrumpelung.

Empfindsamkeit

Das Schöne an der ästhetischen Empfindsamkeit ist, dass sie sich auf alle Sinne erstreckt. Man wird kaum Menschen finden, die da so einseitig begabt sind, dass sie zwar ein feines Sensorium für die Gestaltung von Räumen entwickelt haben, aber im Musikalischen Stumpfböcke geblieben sind. Meist geht der kulinarisch gebildete Geschmack einher mit dem sicheren Gespür für Mode, der Sinn für Angemessenheit im Sprachlichen sucht seinen Ausdruck auch in der phantasiereichen Pflege von Freundschaften. Unter den drei Qualitäten – dem Wahren, Schönen, Guten – ist die Schönheit die vollkommenste.

Zeichen setzen

Beim Diktieren in der Öffentlichkeit, wenn Nachrichten ins Smartphone geflüstert werden, unterscheiden sich die Quassler, die ohne Punkt und Komma ihren Chat befüllen, von den Grammatikern, die ihre Sinnzeichen präzise mündlich setzen. Das ist umständlich und klingt für den unfreiwilligen Zuhörer zuweilen komisch. Noch komischer aber mag manche Konsequenz sein, wenn mangels genauer Bezeichnung der verkehrte Sinn erschlossen wird. Was denn nun? Er glaubt, dass damit alles besser wird. Oder: Er glaubt das, damit alles besser wird. Denn er will, sie nicht. Oder: Er will sie nicht?

Frei von Zusatzstoffen

Formen der Beharrlichkeit

Treue: die Lust auf eine Alternative als aussichtslos anzusehen.
Loyalität: die Freiheit der Wahl im Angesicht der Alternative.
Standhaftigkeit: stille Ankündigung, dass alle künftigen Alternativen nicht ernsthaft erwogen, ohne geleugnet zu werden.
Hartnäckigkeit: in einer Alternative entschlossen die eine Seite verfolgen.
Starrsinn: Blindheit angesichts der Alternative.
Dogmatismus: Leugnung einer Welt, die durch ihre Alternativen vorangetrieben wird und in ihren Alternativen lebendig bleibt.

Der Ritt auf Prinzipien

Der Prinzipienreiter glaubt, dem Leben Zügel anlegen zu müssen, damit es mit ihm nicht ungelenkt durchgeht, und merkt nicht, dass er die Zügel gar nicht in der Hand hält, sondern die Prinzipien ihn reiten.

Urteil und Vorurteil

Die Dummheit der Masse ist nicht das Ergebnis einer Addition der Dummheit einzelner. Sondern sie bildet sich aus, weil das Vorurteil nach Mehrheiten sucht, wohingegen das Urteil um Einsicht wirbt. Selber denken, sich seines eigenen Verstands zu bedienen, diesem alten aufklärerischen Ideal sind kollektive Formen der Reflexion, die schon bei der Gruppenarbeit, dem teamwork, einsetzen, stets suspekt, weil eben auch das Umgekehrte gilt: dass die Mehrheit nach Vorurteilen sucht.

Die Macht der Liebe

Wie sehr die Liebe ein Machtspiel ist, offenbart sich im Augenblick, da eine Beziehung auseinandergeht: Jeder ist besonders bemüht, das letzte Wort nicht zu haben, um den anderen in der Ungewissheit zu lassen, wie er sich zu den Vorwürfen und Versöhnungsangeboten, den Vereinbarungen künftig stellen wird. In der Unabgeschlossenheit eines Gesprächs und der mit ihr einhergehenden Verunsicherung erhofft er sich eine letzte Form der Bindung, ja die Kraft eines Andenkens, die die Liebe nicht mehr aufbringt.

Volltrottel des Lebens

In den Augen des Experten gilt der gebildete Generalist leicht als Volltrottel. Das solide Halbwissen, das sich in Lebensaufgaben oft bewährt, bringt den Fachmann nicht selten zur Verzweiflung, weil er sich von ahnungslosen Fragen und Kommentaren bedrängt fühlt und zu unwirschen Reaktionen genötigt sieht, während er ein Problem bearbeitet, für das er längst die Lösung kennt, wohingegen der interessierte Laie es einzuordnen sucht in ein größeres Ganzes. Spezialisten glänzen mit Wissen, die Lebensklugheit findet gelegentlich guten Rat.

Das gewisse Etwas

Für das Einzigartige fehlen uns die Worte. Es überfordert Sprache, Anschauung, Gefühl. Über Menschen oder Dinge, von denen es heißt, dass sie das „gewisse Etwas“ besitzen, lässt sich weder Gewisses sagen, noch etwas bezeichnen, das sie auszeichnet. Sie zwingen sanft in eine Anerkennung, die nichts anderes sein kann als grenzenlose Faszination. Und die nur eines verwundert: dass andere davon nicht affiziert sein können.

Wohlfühlklima

Alles Erlebte ist begleitet von einer Stimmung, die oft spürbarer ist als das Geschehen selbst. Und mit der sich nicht selten auch andere Erfahrungen verbinden. Wenn morgens kurz nach Sonnenaufgang in das entfernte Taubengurren hinein plötzlich der Fasan heiser krächzt, so vermischen sich Erinnerungen an heitere Tage in der Toskana mit den aktuellen Vorstellungen der Vogelwelt auf der stillen Nordseeinsel. Die Atmosphäre, selber unfassbar, ist präziser als die Ereignisse, denen sie sich angehängt hat, und ablösbar von Raum und Zeit, obwohl sie Räume schafft und Zeiten gewichtet.