Monat: August 2020

Überraschung!

Lassen sich die Provokation, die Überraschung, die Brechung des Gewöhnlichen dauerhaft inszenieren, ohne dass das Spiel mit dem Unerwarteten ermüdet? Das ist die Kunst. Ein Künstler stellt dar, was sich nicht dekorieren lässt, ohne dass man sich am Außerordentlichen vergreift. Er muss selbst das überbieten. Sein Werk ist die abermalige Inszenierung des Ungezeigten und Ungesagten, eine Antwort auf all die Versuche, die bisher nicht gelungen sind, auch wenn es diesen Bezug sich nie eingestehen und zudem nicht sehen will, dass es selbst schon wieder als eine Art überschüssiges Angebot verstanden werden kann, die Erwartung hin zur nächsten Meisterleistung zu öffnen. Indem es alle Aufmerksamkeit auf sich zieht, weist es von sich weg.

Vor Mut gewarnt, zur Warnung ermutigt

Es ist nicht die Zeit, in der die Ermutigung den Vorzug erhält vor der Warnung. Aber sie wäre der Anlass zu zeigen, was eine bestärkende und stützende Politik vor allem ist, die nicht nur den Mut der Regierung herausstreicht, sondern Herz, Entschlossenheit, Schwung und Lebenskraft der Bürger sensibel fördert. Und die nicht Ängste schürt, sondern Vertrauen schenkt, nicht jede Gelegenheit ergreift, sich in ihren Leistungen zu rühmen, sondern die Eigenverantwortung und Fürsorge sich selbständig entwickeln lässt und nur dort regulativ eingreift, wo sie, nicht zuletzt finanzielle, Voraussetzungen schaffen kann, in denen ein Geist der Initiative, der Wachsamkeit, der Klugheit und der Freiheit gedeiht. Warnung vor allen gutgemeinten Formen der Vormundschaft und Ermutigung zur Klarheit über jene Augenblicke, in denen Zurückhaltung Besseres bewirkt als eine wohlwollende Intervention: das könnte das Leitmotiv einer überlegenen Krisenpolitik sein.

Schnutenpulli

Die Maske, die in Friesland schon verniedlicht ist zum Schnutenpulli und bei frischer Brise auch weniger stört, sorgt für Irritationen vor allem im Feld der Bekanntschaft. Was zwischen Liebenden und Freunden, die miteinander so vertraut sind, dass der Ausfall von Wahrnehmungsmerkmalen in der Mund- und Nasenpartie nicht das Gesamtbild irritiert, durch die Vorstellung ersetzt wird, fällt in Gelegenheitsbegegnungen auf. Hinter Baumwollgewebe oder Nonwoven-Materialien verbirgt sich die Miene, so dass es schon schwerer wird, nicht nur den Gesichtsausdruck zu lesen, sondern überhaupt zu erkennen, um wen es sich handelt, wenn die Erinnerung an den anderen visuell nicht scharf genug ist. Ob es sich wirklich um ihn handelt? Die Pflicht zum Tragen der Bedeckung erlaubt nicht, den Stoff zur Enträtselung zu entfernen und (das) Gesicht zu zeigen. Es müssen schon andere Zeichen gesetzt werden, die das Wiedererkennen erleichtern. Was ist es, das im Gedächtnis haften geblieben ist: die Stimme, der Geruch (was zu prüfen die Abstandsregel verhindert), der Gang, die Frisur? Solche Fragen führen zur eigentlichen Verblüffung: wie viele Ähnlichkeiten und äußerliche Stereotypen wir uns leisten, von der Kombination aus blauer Jeans und schwarzem T-Shirt bis zum Haarschnitt mit Hipsterscheitel, und wie arm das individuelle Unterschiedsbedürfnis ist im Zeitalter der Egomanie und des Narzissmus.

Dafür habe ich kein Verständnis

Eine Sache erklären bedeutet, sie in ihren Abhängigkeiten darstellen. Das heißt aber noch lang nicht, dass man sie versteht, geschweige denn dass man für sie Verständnis aufbringt. Was ist der Unterschied? Wo für eine Erklärung Gründe ausreichen, sind zum Verständnis Beweggründe nötig. Hier geht es um Verhältnisse, über die sich etwas erschließen lässt, dort um Beziehungen, die ausschließlich gelten und als deren vornehmste sich die herausstellt, die man selbst zur Sache pflegt.

Ab in die Ferien

Jede Urlaubsreise startet mit der Erwartung, erneuert und verändert, mithin als ein anderer zurückzukommen, und endet in der beruhigenden Gewissheit, dass es so weit nicht kommen musste. Erholt zu sein bedeutet, zu sich selbst und dem Eigenen ein entspanntes Verhältnis wiedergefunden zu haben. Was sich da nicht mehr eingliedern lässt, mag Anlass geben, es mit den zuverlässig zurückgekehrten Kräften umzuwandeln.

Mit dem Virus leben

Es ist ein schmaler Grad zwischen dem Leben, das ein Virus bedroht, indem es den Organismus eines Individuums befällt, und jener anderen Lebendigkeit, die gefährdet ist, weil sich der Organismus einer Gesellschaft zu schützen versucht vor Ansteckung, indem er die Distanz zum verpflichtenden Ideal des Umgangs miteinander erhebt. In beiden Risiken zeigt sich immer deutlicher, worauf die Welterkrankung zielt, die medizinisch „Pandemie“ heißt, aber mehr ist als ein ärztliches Phänomen: auf Abspaltung, Trennung, Vereinzelung und Einsamkeit.

Streiten lernen!

In einer Gesellschaft, die das Streiten verlernt hat, weil sie dessen Formen und Voraussetzungen nicht beherrscht, bilden sich Verachtung, Intoleranz, Hass und Pöbelei aus und reklamieren für sich das moralisch überlegene Recht des Guten. Solche abfälligen Reaktionen können zuverlässig mit der Hilflosigkeit derer rechnen, die kaum noch ahnen, welche Schönheit und Befreiung in einer klugen Auseinandersetzung stecken. Nur keine Unruhe! Das ist das Leitmotiv jener Harmoniebedürftigen, die Einseitigkeit nicht für die notwendige Begleiterscheinung einer wohlüberlegten streitbaren Position halten, sondern für einen Frevel an der Vielgestaltigkeit der Welt. Ihre intellektuelle Geräuschlosigkeit solidarisiert sich allzu rasch mit dem Krawall, der die Provokation, die durch nichts als den klaren Gebrauch von Vernunft entsteht, höhnisch niederbrüllt, eine Herausforderung, die schon deswegen als unvernünftig gilt, weil sie – seltsam zu sagen – zur Reflexion reizt. Die Sache wird sofort persönlich genommen; man scheint nichts mehr zu wissen von der Überzeugungskraft triftiger Gründe. Der allzu laute Widerspruch wird mit vorauseilendem Gehorsam kleinlaut beantwortet durch Zurückhaltung im Denken.