Tag: 28. Oktober 2020

Mehr sprechen, weniger reden

Über den Zusammenhang zwischen Reden und Sprechen*:
1. Sprechen ist die Fähigkeit, so zu reden, dass Worte Gemeinschaft stiften.
2. Vor die Gemeinschaft ist das Hören gesetzt, das zunächst nichts anderes meint, als anzuerkennen, dass ein anderer etwas zu sagen hat.
3. Die Anerkenntnis lässt sich nicht erzwingen, sondern entsteht in der zirkulären Bewegung, die jede Rede vollzieht, die um sie wirbt und sie deswegen schon voraussetzen muss, weil sonst das Bemühen um Beachtung sinnlos wäre.
4. Jemand der gut spricht, schafft es in seiner Rede, die Anwesenden nicht nur fürs Zuhören zu gewinnen, sondern die Zuhörer zu Anwesenden zu machen. Was das bedeutet: Wer die Worte vernimmt, versteht, dass sie mehr bewirken als den Verweis auf das, was sie bezeichnen. Sie vermitteln Sinn und lassen entdecken, dass dieser Sinn nicht vereinzelt. (Einsamkeit ist die Erfahrung, dass dieser Sinn fehlt.)
5. Es wird mehr geredet als gesprochen. Es wird zu viel geredet und zu wenig gesprochen. Je mehr geredet wird, desto weniger wird gesprochen.
6. Das Reden beharrt auf Positionen. Das Sprechen öffnet Perspektiven.
7. Sprechen ist die einzige Möglichkeit, gemeinsames Handeln frei zu gestalten.

* Martin Heidegger hat in „Sein und Zeit“ in den §§ 34 ff. über das Verhältnis von Sprache und Rede gehandelt und in ihm das „Gerede“ verortet, das als alltägliches die Selbstauslegung des Daseins verschließt (S. 169).