Monat: Dezember 2020

Hau ab!

Dem Jahr zum Abschied grußlos nachgerufen: Habe mit dir zu viel vermisst, als dass ich an dir etwas vermissen könnte.

Ein Jahr zum Vergessen?

Alles, was knapp „zum Vergessen“ heißt, ist genau das, woran man sich Jahre später noch genau erinnern wird.

Lesarten

Drei Lesarten, die Bücher zu sortieren:
1. die gewöhnliche, die ein Buch von Anfang an sich fortlaufend erschließt, weil sie überzeugt ist, dass der Gedanke folgerichtig vorgestellt ist und in seiner Logik ihn nachzuvollziehen sich lohnt;
2. die selektive, die ein Buch wild durchblättert, mal hier, mal dort stöbert auf der Suche nach einem anregenden Satz, einer Sentenz, einer These, auf die sich hinzuarbeiten zu mühselig erscheint, ohne die Hoffnung aufgegeben zu haben, fündig zu werden mit dem Wenigen, das genügt;
3. die verdrehte, die ein Buch hinten aufschlägt, die Pointe gewissermaßen vorwegnimmt in der Ahnung, dass es im Ganzen ungenießbar ist und so durch die voreilige Auflösung sich selber der äußerlichen Spannung beraubt und damit des einzigen Grunds, es als Werk anzufassen.

Romantische Liebe

Anruf bei der Freundin, die es, mit Blick auf bessere Tage, einzuladen gilt zur Jubelfeier:
„Lang nicht gesprochen. Fast sieben Jahre. Bist du noch zusammen mit F.?“
„Ach was, das weißt du doch, dass ich es nicht gut bei einem aushalte. Sieben Jahre, sagst du? Das waren, lass mich zählen, fünf Neue in der Zwischenzeit. Mit einem habe ich es immerhin geschafft, in eine gemeinsame Wohnung zu ziehen. Ging dann aber schnell auseinander.“
„Wen soll ich auf die Einladungskarte schreiben? Wie heißt er?“
„Wann ist das Fest? Im Sommer? Schreib einfach: ,… mit Begleitung‘.“
„Deine Ansprüche an Männer sind einfach zu hoch. Der muss noch geboren werden, der ihnen genügen kann.“
„Da bleib ich doch lieber meinem Niveau treu als meinem aktuellen Partner.“
„Aber mit hohen Leitbildern kann man nicht zusammenleben.“
„Entschuldige, aber du lebst mit nichts anderem als mit Idealvorstellungen, immer wieder. Deswegen tausche ich die Realität ja ab und zu aus.“
„Behältst du noch den Überblick?“
„Als ob es darum ginge.“
„Das klingt abgeklärt.“
„Nein. Das ist der Inbegriff von Romantik. Du bist doch der Schlaue und müsstest wissen, dass die Richtschnur der Schwärmer stets das unerreichbare Vorbild ist. Meine ,blaue Blume‘ hat noch keiner der Männer gepflückt, mit denen ich zusammen war. Wahrscheinlich bin ich geradezu der Inbegriff der Romantikerin.“

Modeberuf

Zukunftsberuf: Stylist des Geistes. Durch die sinnvolle Auslese von Lektüren, von Debatten, an denen teilzunehmen lohnt, Hör- und Sehempfehlungen, Begegnungen und pointiert gesetzten Skandalen formt er Charakterköpfe, wie der Stilberater in Sachen Mode mit der Kleiderselektion eine Individualität dezent einfängt und repräsentiert. Wo viel zu viele viel zu viel zur Verfügung stellen, ist die Kunst, das Richtige wegzulassen. In einer Zeit der Überdokumentation zeigt sich Persönlichkeit durch gewählte Ignoranz.

Freie Zeit

Viele sehen in der Freiheit vor allem, Zeit zu haben für alles mögliche. Dabei zeigt sich Freiheit in ihrer Möglichkeit, wo sie keine Zeit mehr hat für alles.

Vernunftglaube

Ein Glaube ohne Zumutungen an die Vernunft verliert an Reiz.

Fürchtet euch

Der Engelsgruß, mit dem die Geburt des Weltenerlösers den alten Geschichten nach angekündigt wird, setzt sich gegen jene Ungewissheit und Verunsicherung, die alles Wunderliche begleitet, solange es nicht eingeordnet werden kann in gewohnte Muster und alltägliche Regeln: Fürchtet euch nicht! Nur, was war wunderlicher als dieses Wort? Wovor hatten sich die so Angesprochenen gefürchtet, und sollen es fortan nicht mehr? Doch nicht vor einem schutzlosen Säugling, der gerade das Licht der Welt erblickt hat? So winzig wie der neue Erdenbürger, so wenig war den Zeugen bang vor ihm, die wohl ohnehin überwältigt schienen von Freude und Erleichterung, dass trotz der Unbill im Stall nichts schiefgegangen war bei der Niederkunft. Ist das also schräg erzählt? Nicht, wenn man den Satz liest als das traditionelle Gotteswort schlechthin, das erinnert an Zeiten, da es noch eine Menge zu fürchten gab, wenn der Höchste ins Geschehen eingriff. Die Mythologien sind voll solcher Schrecken. Die im Testament oft gewählte Formel wäre folglich zu nehmen als ein Näheversprechen, das sich als neu positioniert im Religionsreigen. Als Zumutung und Zusage eines Gottes, der sich nicht im Jenseits verortet wie sonst üblich oder gelegentlich blicken lässt, um den Irdischen zu demonstrieren, wozu er fähig ist, der nicht über allem steht und sich in die Steigerungslogik von Allmacht, Allgegenwart und Allwissenheit verstrickt, vor dem zu fürchten man demnach allen Anlass hätte. Sondern dessen wesentliches Merkmal ist, mit den Menschen zu sein, der auf Teilnahme und Teilgabe aus ist, ja der Angstfreiheit als Zeichen seiner Präsenz signalisiert. Das mag einer Welt, die sich inzwischen weit mehr vor sich selber fürchtet als vor Gott, nicht mehr recht einleuchten, weswegen die gewöhnliche amtliche Auslegung meist auch den psychologischen Aspekt betont, die weihnachtliche Furchtlosigkeit als Grundgefühl ins Tagesgeschehen zu übertragen. Nein, nein. Es gibt weiterhin gute Gründe, sich vor seinesgleichen zu erschrecken. Da sind allgemeine Vorsicht und Respekt mitunter vernünftig eingesetzt. Wir sind gerade mal wieder Experten in dieser Erfahrung geworden. Solche Expertise dennoch nicht gegen eine bestimmte Form der Entsicherung dauerhaft auszuspielen, darum geht es in der Legende aus Bethlehem: um den Glauben nämlich, dass die Lebendigkeit des Lebens stärker ist als alle Mutlosigkeit, Verzweiflung, Hemmung oder Trauer, Niedergeschlagenheit und Verstimmung. Von dieser Kraft des Lebendigen zehrt jede Geburt. Erst recht, wenn sie eine außergewöhnliche zu sein beansprucht, die des Gottessohns. Man nennt diese Entsicherung Vertrauen. Die Himmelswesen erscheinen im Bericht vom Krippenkind, indem sie das Vertrauen als Grundlage und Hauptmaß der Beziehung vorstellen, die zwischen Gott und Mensch künftig existiert. So etwas kann nur mit einer Offerte beginnen, die zeigt, was sie sagt: dass sich einer denen unbedingt ausliefert, die es nicht verdienen. Das ist kein Grund zur Furcht, aber könnte Anlass sein für Ehrfurcht.

Rücksichtsloses Recht

Zum Respekt vor dem Recht gehört, seine Rücksichtslosigkeit zu akzeptieren. Nur weil iustitia die Augen verbunden sind, können ihr die Hände nicht gebunden werden. Das ist das Unerträgliche an Mächtigen, die sich auf angeblich überlegene Regeln berufen wie die der Freundschaft, um Straftaten zu verschleiern und Täter zu decken (Kohl, der seine Geldgeber nicht verrät; Woelki, der einen pädophilen Priester ehrt … ), dass sie sich selbst ein letztes Wort zumessen, was sie sonst nicht dulden. Und die nicht verstehen, wie jedes demokratische Recht mit dieser Verlegenheit ringt: ein verbindliches Urteil sprechen zu müssen, ohne für sich in Anspruch zu nehmen, Endgültiges zu sagen. Viele der sogenannten höheren Werte, auch die Gerechtigkeit, sind nichts als Kompensationen dieses Konflikts und dienen allein dem Wunsch, ihn zu ertragen.

Post von Unbekannt

Immer wieder finden sich in der Weihnachtspost Grußbotschaften von Menschen, die in schönster geschäftsfreundschaftlicher Manier geschrieben sind und jenseits der Wunschfloskeln vertraut Einblicke geben in die jüngsten Erfolge trotz der – ein diesmal allzu oft gelesener Ausdruck – Widrigkeiten. Der Tenor lässt sich in vier Worte fassen: Was für ein Jahr! Der Unterzeichner allerdings, der für die Unterstützung im abgelaufenen Geschäftszyklus dankt und mit dem zuversichtlichen Ausblick endet, man werde einander demnächst wieder persönlich treffen, ist dem Adressaten ganz und gar unbekannt. Seit ungezählten Jahren bekommt dieser zum Zeitenwechsel Briefe, deren Verfasser er nie gesehen oder gesprochen hat, aus Unternehmen, mit denen ihn in ferner Vergangenheit mal ein kleiner Auftrag verband. In der Zwischenzeit wurden Vorstand oder Geschäftsführung mehrfach ausgetauscht. Was zuverlässig blieb, ist der vorfestliche Brauch der handschriftlichen Karte. Man möchte sie nicht missen. Sie gehört zum stimmungsvollen Accessoire des Advents wie Plätzchen und Kerzenschein. Und so vieles, von dem die meisten nicht mehr wissen, was es bedeutet und woraus es einst hervorgegangen ist. Es wirkt trotzdem. Vielleicht ist diese Vergessenheit das wesentliche Merkmal jedes Rituals: auf seinen Effekt altbewährt setzen zu können, ohne die Probe darauf machen zu müssen, wie belastbar das ist, worauf es verweist.

Konjunkturprogramm

Die Verbindung von kontaktlosem, bargeldfreiem Bezahlen mit den ungezählten Warenangeboten im Netz, sie scheinen das wahre Konjunkturprogramm in Krisenzeiten zu sein. Da genügt schon der erschrockene Blick auf die monatliche Kreditkartenabrechnung, um sofort zu begreifen, was die Wirtschaft derzeit am Laufen hält. Wo die allermeisten Erwerbshemmungen, vom Wägen des Gegenstands in den Händen, das oft ein unentschlossenes Abwägen ist, bis zum Zögern, die Schwelle des Geschäfts überhaupt zu übertreten, wegfallen, ist der Weg frei fürs unkontrollierte Bestellen. Weihnachten im shutdown: weniger Geschenke, zu viele Frustkäufe.

Freude

Zum vierten Advent, dem Sonntag der Vorfreude
Das könnte ein Kriterium, ein Leitmotiv aller theologischen Aussagen sein, weit jenseits der Lehrmeinungen amtlicher Dogmatik: Ein Wort verdient in dem Maße willkommen zu heißen, wie es ihm gelingt, Freude zu vermitteln. Wer seine Sprache so beschränkt, hat das Potential, die Welt von Grund auf zu verändern. Es gehört zur geschickten Tarnung der Freude, für harmlos gehalten zu werden.

Radikale Rationalität

In freien Gesellschaften, die bei politischen Entscheidungen auf den gefälligen Kompromiss setzen, ist die Zustimmung zu rigorosem Handeln nicht leicht zu erringen. Und doch verlangen Situationen ab und zu, sich zu besinnen auf eine Radikalität, die nicht unvernünftig gescholten, sondern als rational angesehen zu werden verdient. Da gleicht sich die Zumutung dem Niveau dessen an, was mit ihr errungen oder wiedergewonnen wird: Freiheit verlangt verlegen, um ihrer selbst willen, die befristete, aber konsequente Einschränkung und verrät so ihr Wesen als eine bestimmte Form der Bindung, die alles andere ist als Willkür.*

* Drei Frauen vor allem, Viola Priesemann, Melanie Brinkmann und Sandra Ciesek, zeichnen verantwortlich für den Aufruf vieler Wissenschaftler zur Bekämpfung der Pandemie, der eine beschränkte, fundamentale Abkehr vom öffentlichen Leben in ganz Europa verlangt. Siehe hierzu auch meinen Blog-Beitrag vom 16. März 2020: „Zwei Wochen, mehr nicht“.

Im Netz

Eine grobe Beschreibung der Binnenstruktur sozialer Medien: Was der Hass hier, ist die Häme dort.

Wahre Liebe

Es ist immer anmaßend, wissen oder gar sagen zu wollen, was „wahre“ Liebe sei. Aber sie sich vorzustellen meint, sie mit zwei Merkmalen zu denken: der Unfähigkeit, den anderen zu vergessen, und der Fähigkeit, ihm zu vergeben.

Privates, öffentlich

So viel privates Leben hat mancher gar nicht, dass er damit das Maß des öffentlichen Lebens ersetzen könnte, das wieder einmal heruntergefahren ist.

Zukunft und Zuversicht

Es gehört prinzipiell zu jedem Gedanken an die Zukunft ein Aspekt von Zuversicht, der jenem impliziten Imperativ entspricht, der alle Veränderung begleitet: diesen Wandel in eine neue Zeit mitzugestalten.

Gebrauchsanleitung für eine Strategie

Die Fragen, die am Ende zu einer Strategie führen, haben vor allem eine Aufgabe: das Denken zu ordnen. Nach dem Schock über den ersten Russen im Weltraum, Juri Gagarin, schrieb der amerikanische Präsident John F. Kennedy seinem Vize am 20. April 1961 ein Memo, in dem er eine Gesamtsicht der Lage verlangte. Es enthält die Grundthemen eines Entwurfs zur Überlegenheit:
1. Wo stehen wir?
2. Haben wir eine Chance?
3. Was kostete es?
4. Arbeiten wir daran rund um die Uhr?
5. Wenn nein, warum nicht?
6. Wie können wir das ändern?
7. Verwenden wir die richtigen Techniken?
8. Erreichen wir die besten Ergebnisse?
Er schließt mit zwei Appellen: der Aufforderung um schnellstmögliche Reaktion und der Bitte um Unterstützung. Es sind schlichte Fragen, die nach einfachen Antworten verlangen in einer schwierigen Lage. Sie dienen dazu, sich über die eigenen Ziele frei und belastbar zu vergewissern. Und, mehr noch, Wege zu ebnen, dorthin zu gelangen. Das ist die Aufgabe einer Strategie: ein Instrumentarium zu erstellen, das hilft, sich zu orientieren, und damit der edelsten Anstrengung zu dienen, der menschliches Leben sich immer wieder widmen muss: dem Eigenen einen Sinn zu geben. Wenn eine Strategie fehlt, mangelt es vor allem an der Fähigkeit, klar zu denken.

Gescheiterte Gottlosigkeit

Vielleicht ist der religiöse Glaube nichts als das verlegene Eingeständnis, dass die eigene Gottlosigkeit gescheitert ist. 

Kurz vor Ladenschluss

„Hast du schon alles fürs Fest?“
„Glaube schon. Jeder in meiner Familie bekommt von mir diesmal dasselbe.“
„Du Glücklicher. Ich muss noch los, bevor sie die Geschäfte dicht machen. Was schenkst du?“
„Ich schenke in diesem Jahr Weihnachten. Und hoffe, dass sie sich freuen.“

Timing

Das Gespür für das, was an der Zeit ist, gehört zu jenen Empfindsamkeiten, über die wir unser Sozialleben regulieren. Im Sinn für Entsprechungen stiften wir beiläufig Nähe oder signalisieren unausdrücklich Abstand, zeigen Formen der Verachtung, nicht zuletzt der Höflichkeit. Vielleicht ist diese Art der freundlichen Aufmerksamkeit überhaupt nichts anderes als das wohleingesetzte Talent, adäquat zu handeln. So manche Botschaft, die über das Zeitgefühl vermittelt wird, übertönt den Inhalt einer Aussage. Da zögert einer zu lang mit der Antwort auf eine Nachricht und will trotz Zusage und Zuvorkommenheit im Text nur eines signalisieren: Lass mich künftig in Ruhe. Warten lassen ist eine der vergiftetsten Zeichen im Gesellschaftsspiel von Zuneigung und Ablehnung.

Entscheidungszwang

Zu spät hat sich entschlossen, wer den Entscheidungszwang als eine Situation erlebt, in der das Risiko, die falschen Schritte zu gehen, von der Gefahr durch das Zögern übertroffen wird. Dann muss man sich verhalten, weil die Gelegenheit zum Handeln längst verstrichen ist. Es nicht allen recht, aber es für sich richtig machen zu können, ist geradezu das Wesen eines gefällten Entschlusses. Das ist der wirkliche Zwang in der Entscheidung: dass sie zwangsläufig Ungerechtigkeit schafft.

Es hat nichts gebracht, außer …

Am Ende eines Jahrs voller Appelle an die allgemeine Vernunft bleibt die Einsicht, auf diese vorgestellte Instanz nicht verzichten, aber auch nicht auf sie setzen zu können. Die wohlmeinende Fiktion aufrecht erhalten zu müssen, dass Menschen über eine Restintelligenz verfügen, die sie miteinander teilen und die gemeinschaftsfähig, auch wenn das im Einzelfall nicht immer erkennbar ist, gehört zu den fraglosen Grundlagen einer Gesellschaft. Nur, sollte die Probe nie darauf gemacht werden, was es denn bedeuten könne, dass wir annehmen, Logik könne zwanglos zwingen, Wahrheit gelte als letztes Kriterium für Wirklichkeit oder Verantwortung sei mehr als eine trostlose Parole für jene, die an ihr gescheitert sind. Das ist nicht nur der Anfang einer Einübung in Realismus. Sondern erzeugt auch Ratlosigkeit, die sich schließlich als Akt der Verzweiflung in Erlassen und Verordnungen äußern muss. Jede allgemeine Regel enthält das stille Eingeständnis, mit der allgemeinen Vernunft sei letztlich kein Staat zu machen, obwohl er auf ihr fußt. Schon Ludwig Feuerbach, der noch geprägt war von den optimistischen rationalen Grundannahmen des deutschen Idealismus, formuliert vorsichtige Zweifel an der Leistungsfähigkeit der „allgemeinen Vernunft“, der er ein eigenes Kapitel gewidmet hat in seiner „Geschichte der neueren Philosophie“: „Jedermann gesteht ein, daß alle Menschen fähig sind, die Wahrheit zu erkennen, und selbst die am wenigsten erleuchteten Philosophen räumen ein, daß der Mensch an einer gewissen Vernunft, die sie nicht näher bestimmen, Anteil hat; deswegen definieren sie ihn als ein der Vernunft teilhaftiges Wesen. Denn jeder weiß wenigstens dunkel, daß die wesentliche Differenz des Menschen in seiner Einheit mit der allgemeinen Vernunft enthalten ist, obgleich in der Regel keiner weiß, was denn diese Vernunft in sich enthält, und sich darum bekümmert, es zu entdecken.“*

* Geschichte der neueren Philosophie von Bacon von Verulam bis Benedikt Spinoza, Sämtliche Werke 3, VII, § 77

Überraschungsbesuch

In jedem Lohn steckt eine Lästigkeitsprämie, die nicht eigens ausgewiesen sein muss. Sie honoriert all die unangenehmen Begleiterscheinungen des Berufslebens, die sich gelegentlich Luft schaffen im ambivalent-genervten Ausruf: Dauernd will einer was von mir! Andersrum wäre es allerdings auch nicht gut. In Zeiten des home office hat sich verschoben, was als Ärgernis verbucht werden muss. Da Überraschungsbesuche des geschätzten Kollegen im Büro, der stets eine kleine Zusatzbitte um schnelle Erledigung hinterlässt, derzeit kaum stattfinden können, Kunden Reklamationen nicht direkt vortragen, Termine in Behörden nicht oder nur nach umständlicher Voranmeldung erlaubt sind, geht es weniger um diese ungeplanten professionellen Plagen als die Verzweiflung über die notorische Unerreichbarkeit von Mitarbeitern. Lästig ist, dass der spontane Zuruf und der einer Aufgabe beigegebene Anspruch den Adressaten allenfalls über allzu lange Umwege erreichen, so dass sie zwischenzeitlich fad geworden sind und an Kraft verloren haben. Nicht nur „Abstand halten“, sondern vor allem „Auf Abstand halten“ ist das Gebot der Stunde in der Arbeitswelt.