Tag: 5. Dezember 2020

Durchatmen

Die, soll man sagen: selber geistige, Verwandtschaft zwischen dem physiologischen Phänomen des Atmens und dem, was wir seit alters „Geist“ zu nennen gewohnt sind, bringt sich in Erinnerung, als die Maske nach stundenlangem Tragen endlich vom Gesicht gerissen werden kann. Durchatmen können, das ist das Gefühl, das Freiheit schenkt. Dass sich der Brustkorb wieder hebt, Spannkräfte in den Körper zurückkehren, keine Hemmnisse sich auftun zwischen Innen und Außen, die frische Luft ungehindert in die Lungen strömt, das alles hängt zusammen und schafft gleich eine wiederbelebte Wohlstimmung. Es kommt nicht von ungefähr, dass in der Mythologie die Lebendigkeit am Odem festgeschrieben wird, der dem Menschen eingehaucht ist zwecks Selbständigkeit, Souveränität, Spontaneität. Erst mit diesem atmenden Geist bekommt er eine Seele. Wenn über die Folgen der in der Pandemie verordneten Maskenpflicht zu handeln ist, mag vor allem das eingeschränkte Lebensgefühl in den Blick rücken. Aber man unterschätze nicht die geisthindernde, ja geisttötende Wirkung eines Stoffs, der den respiratorischen Austausch mit der Welt einengt. Weit tiefer als ins alltägliche Lebensgefühl greifen die Regeln ein ins Lebendigkeitsgefühl, in Seele und Esprit, denen die Gelegenheit genommen ist, frei zu atmen. Paul Valéry hat unter diesem Titel Respirer, unmittelbar nach der Befreiung von Paris durch die Alliierten im Herbst 1944, im „Figaro“ einen kleinenText geschrieben: „Wir haben gesehen und miterlebt, was eine riesige und berühmte Stadt vermag, die atmen will. Und auf einmal nimmt jenes so vage Wort, SEELE, eine wunderbare Bedeutung an.“*

* Werke, Frankfurter Ausgabe 7, 528f.