Tag: 9. Dezember 2020

Es hat nichts gebracht, außer …

Am Ende eines Jahrs voller Appelle an die allgemeine Vernunft bleibt die Einsicht, auf diese vorgestellte Instanz nicht verzichten, aber auch nicht auf sie setzen zu können. Die wohlmeinende Fiktion aufrecht erhalten zu müssen, dass Menschen über eine Restintelligenz verfügen, die sie miteinander teilen und die gemeinschaftsfähig, auch wenn das im Einzelfall nicht immer erkennbar ist, gehört zu den fraglosen Grundlagen einer Gesellschaft. Nur, sollte die Probe nie darauf gemacht werden, was es denn bedeuten könne, dass wir annehmen, Logik könne zwanglos zwingen, Wahrheit gelte als letztes Kriterium für Wirklichkeit oder Verantwortung sei mehr als eine trostlose Parole für jene, die an ihr gescheitert sind. Das ist nicht nur der Anfang einer Einübung in Realismus. Sondern erzeugt auch Ratlosigkeit, die sich schließlich als Akt der Verzweiflung in Erlassen und Verordnungen äußern muss. Jede allgemeine Regel enthält das stille Eingeständnis, mit der allgemeinen Vernunft sei letztlich kein Staat zu machen, obwohl er auf ihr fußt. Schon Ludwig Feuerbach, der noch geprägt war von den optimistischen rationalen Grundannahmen des deutschen Idealismus, formuliert vorsichtige Zweifel an der Leistungsfähigkeit der „allgemeinen Vernunft“, der er ein eigenes Kapitel gewidmet hat in seiner „Geschichte der neueren Philosophie“: „Jedermann gesteht ein, daß alle Menschen fähig sind, die Wahrheit zu erkennen, und selbst die am wenigsten erleuchteten Philosophen räumen ein, daß der Mensch an einer gewissen Vernunft, die sie nicht näher bestimmen, Anteil hat; deswegen definieren sie ihn als ein der Vernunft teilhaftiges Wesen. Denn jeder weiß wenigstens dunkel, daß die wesentliche Differenz des Menschen in seiner Einheit mit der allgemeinen Vernunft enthalten ist, obgleich in der Regel keiner weiß, was denn diese Vernunft in sich enthält, und sich darum bekümmert, es zu entdecken.“*

* Geschichte der neueren Philosophie von Bacon von Verulam bis Benedikt Spinoza, Sämtliche Werke 3, VII, § 77